Wenn das Sozialgesetzbuch versagt, sind oft private Hilfsorganisationen gefragt, um die ärgste Not zu lindern. Ein Beispiel aus Hamburg
Benedikt Vallendar
Hamburg – Es ist bitterkalt auf St. Pauli, in Hamburg, nahe der Reeperbahn. Nur wenige Schritte vom Bezirk Altona entfernt. In wenigen Tagen ist Heilig Abend. Doch von vorweihnachtlicher Stimmung ist zwischen Straßenverkehr und hektischen Passanten wenig zu spüren. Ein eisiger Wind fegt um die tristen Betonblöcke, unweit der Großen Freiheit. Frauen im Minirock und tief dekolletierter Bluse stehen am Straßenrand, neben Bettlern und fliegenden Zeitungshändlern. Dazwischen das kitschige Jingle Bell aus einem Leierkasten und der großstadttypische Duft nach Döner, Pommes und Bratwurst. Wer hier strandet, der ist oft ganz unten gelandet. Hat nicht selten eine Odyssee durch Behörden, Suchtkliniken und den Strafvollzug hinter sich. Manche sind psychisch krank, traumatisiert oder schizophren, ertragen keine lauten Geräusche um sich herum. Die prekäre Lage dieser Menschen haben engagierte Bürger in der Hansestadt schon vor Jahrzehnten erkannt. Und nach Lösungen gesucht. Das Ergebnis war die „Alimaus“ am Nobistor 42, unweit der berühmten Vergnügungsmeile, ein Zufluchtsort für Obdachlose und alle, denen es sonst wie schlecht geht. Das rustikale Blockhaus mit den braunen Fensterrahmen und den bunten Blumengestecken strahlt Wärme aus. Menschen, die hier her kommen, sollen sich als Gäste fühlen, sagt Franziskanerschwester Clemensa Möller, die Leiterin. Die Reeperbahn mit ihrer oberflächlichen Glitzerwelt und den leeren Verheißungen zieht nicht nur Touristen an. Von jeher landen hier Menschen, die, angezogen von der bunten Scheinwelt, oft noch tiefer im Drogen- und Alkoholsumpf versinken. Die Verantwortlichen der Alimaus helfen, wo sie können. Ohne sich Illusionen hinzugeben. Denn in vielen Fällen können sie Probleme nur lindern, nicht lösen. Das ist die bittere Realität, mit der die Schwestern und ihre freiwilligen Helfer am Nobistor tagtäglich konfrontiert sind. „Als ich vor fünfzig Jahren in den Orden eintrat, dachte ich noch, jeden Menschen in die Gesellschaft zurückführen zu können“, sagt Schwester Clemensa. So naiv sei sie heute nicht mehr, räumt die 69-Jährige selbstkritisch ein. „Nur wer von sich aus zeigt, dass er seine Situation verbessern will, der kann es schaffen, wieder ein normales Leben, ohne Drogen und Alkohol zu führen“, sagt die erfahrene Ordensschwester. „Wenn Sie sich entschlossen haben, nicht mehr in die Alimaus zu gehen, ist das der erste Schritt in die richtige Richtung“, wirbt die Einrichtung unmissverständlich auf ihrer Homepage im Internet. Für diejenigen, die noch in die Alimaus kommen, organisieren freiwillige Helfer Kontakte zu Sozialbehörden, besorgen warme Kleidung und bieten einen kostenfreien, medizinischen Dienst an. Immer mittwochs haben der Arzt und sein Team dann alle Hände damit zu tun, aufgeschlagene Wunden, offene Beine und Hauterkrankungen zu behandeln. In der Alimaus gibt es zwar auch Waschmaschinen und Duschen. Aber nur wenige Gäste trauen sich, diese zu nutzen. Viele leiden an Krätze, haben Flöhe und Läuse, die sie oft gar nicht mehr spüren. „Einfacher ist es, die Alltagssorgen mit Bier und Schnaps einfach wegzuspülen“, sagt Schwester Clemensa. Wer die von Kälte und Straße zerfurchten Gesichter der Menschen sieht, weiß, was sie meint. Viele Alimaus-Besucher übertünchen ihre Not mit Alkohol und rutschen damit immer weiter nach unten.
Von der Polizei gesucht
Schwester Clemensa, gebürtige Osnabrückerin, ist gelernte Erzieherin. Für ihre Arbeit in der Alimaus ist das von großem Vorteil, sagt sie. Denn oft muss Schwester Clemensa ausgesprochen pädagogisch agieren, bevor sie zum Äußersten greift und die Polizei ruft. Was aber zum Glück „nur selten“ vorkommt, wie sie sagt. Etwa, wenn Betrunkene randalieren und andere Gäste belästigen. Die freundlichen Beamten von der nahe gelegenen Davidwache haben schon öfter angeboten, „nach dem Rechten zu schauen“. Doch das lehnen die Schwestern ab. „Denn dann würden viele das Vertrauen in uns und die Einrichtung verlieren“, sagt eine Mitschwester Clemensas. Im Altonaer Trinkermilieu hat die Alimaus längst den Nimbus eines Zufluchtsorts für Menschen, die andernorts nicht wohl gelitten sind. Und nicht alle, die hier her kommen, haben eine reine Weste. Viele haben Schulden, etwa beim Jugendamt wegen Unterhaltsforderungen. Andere stehen im Fahndungscomputer der Polizei, weil sie zum zehnten Mal beim Schwarzfahren erwischt worden sind und eine Haftstrafe antreten sollen. Viele derjenigen, die in der Alimaus ein- und ausgehen, tun das schon seit Jahren, sind so etwas wie „Stammgäste“ geworden. Etwa Manni, dessen Alter sich nur schätzen lässt. Rund achtzehn Jahre hat er im Gefängnis verbracht. Wegen „verschiedener Sachen“, wie er sagt. Aber nie länger als ein bis zwei Jahre. Rein in den Knast, raus aus dem Knast. Das war über Jahrzehnte sein Leben. Kein Arbeitgeber hat ihn je länger als ein halbes Jahr beschäftigt, sagt der gelernte Parkettleger. Mit Tätowierungen übersät und rauer Stimme erzählt Manni von seinem Leben auf der Straße. Von den Drogen, seiner Exfrau und den vier Kindern. Und dass er früher mal ein Haus auf dem Deich hatte und jetzt endlich wieder eine kleine Wohnung habe. Bezahlt vom Amt, das ihn ständig dränge, irgendwelche Minijobs anzunehmen. Manni wirkt wie ein Matrose, der froh ist, nach einem Sturm auf hoher See festen Boden unter den Füßen zu haben. Die Alimaus ist sein Hafen, ein Ort, wo er von Zeit zu Zeit auf Anker gehen und sich ausruhen kann. „Die Alimaus gehört zu den wenigen Orten in Hamburg, wo ich gerne hingehe“, sagt Manni, während er sich die warme Bohnensuppe schmecken lässt. Draußen wird es allmählich dunkel. Der Nordwind bläst immer stärker um das Blockhaus.
Vom Boom vergessen
Seit geraumer Zeit kommen immer mehr Jugendliche und Ausländer in die Alimaus. Die gestiegenen Asylbewerberzahlen und der Zustrom von Armutsmigranten aus Osteuropa machen sich auch in Hamburg bemerkbar. „Es wird immer schwieriger, an preiswerten Wohnraum zu kommen“, klagt eine Mitarbeiterin des Jobcenters in Altona. Die Mieten steigen und steigen, und auch 2014 sollen sie sich, nach Presseberichten, weiter nach oben bewegen. Zurzeit fließt in die Hafenstadt sehr viel Geld, das wegen historisch niedriger Zinsen nach Anlagemöglichkeiten sucht. Vor allem Immobilien erscheinen als lukratives Investment. Es wird in Hamburg gebaut und saniert, was das Zeug hält. Das Stadtbild verändert sich merklich. Doch scheint es, als würde dieser Boom an Menschen wie Manni spurlos vorbeigehen. Sie können froh sein, wenn ihnen die Fürsorge ein kleines Zimmer mit Kochnische und WC bezahlt. Und immer vorausgesetzt, sie finden ein solches. Ihnen bleibt oft nur eine städtische Notunterkunft, das Leben auf der Straße oder eben Einrichtungen wie die Alimaus, für die inzwischen auch Hamburger Honorationen die Werbetrommel rühren und Geld sammeln.