Recht philosophisch: Karl Marx als Rechtsphilosoph
Jochen Barte
Mit Geschichtsphilosophien verhält es sich wie mit der Kleider-Mode. Die Entwürfe reichen von bieder bis avantgardistisch, wechseln schnell und je nach persönlichem Geschmack kann man sich das Passende heraussuchen. Einziges Risiko hier wie dort: Wer den falschen Entwurf wählt, ist schnell out. Ein Verdikt, das lange auch für Karl Marx galt. Nachdem DDR und Sowjetunion an ihren inneren Blutungen zugrunde gegangen waren und der neue sozialistische Mensch zunächst eher dadurch auffiel, dass er im KDW in Berlin die Südfrüchte hamsterte, galten Sozialismus und Kommunismus als erledigt. Der Westen hatte gewonnen und Francis Fukuyama proklamierte frohgemut das Ende der Geschichte. Das hatten freilich andere vor ihm auch schon antizipiert, insbesondere Marx, – denn es handelt sich hierbei offenbar um eine Versuchung, der ein richtiger Philosoph kaum widerstehen kann. Mittlerweile dämmert den kritischen konservativen Geistern aber zunehmend, dass es andersrum leider auch nicht so richtig funktioniert. Denn die schöne neue Welt des globalisierten Kapitalismus bringt ungeahnte Zumutungen mit sich: Zeitarbeit, Dumpinglöhne, Energieprobleme und vieles andere mehr. Da kann dem multivernetzten Digital Native unserer Tage beim Downloaden der neuesten Apps schon mal der Spaß vergehen. Und selbst der Nationalstaat, quasireligiöses Surrogat menschlicher Sinnstiftung und letzter Garant individueller Sicherheit, muss sich vor den Stoßtruppen des Kapitals, den Rating-Agenturen, in Acht nehmen. Das Sein bestimmt also immer noch das Bewusstsein, womit man einmal mehr bei Marx angelangt wäre und der aktuell nicht mehr ganz so abseitigen Frage, wie sich der Trierer Philosoph die Organisation des Staates damals eigentlich gedacht hatte.
Kritik an der Hegel’schen Rechtsphilosophie
Man schrieb das Jahr 1844, als Marx mit der Schrift „Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie“ seinen Ruf als kritischer Denker begründete. Der Vormärz war gerade in vollem Gange und die sozialen Missstände waren groß. Freilich sahen dies nicht alle so. Insbesondere die Rechtshegelianer, die Bewahrer des hegelschen Erbes, konnten im preußischen Staat nichts Schlechtes erkennen: effiziente Bürokratie, gute Universitäten und ein hoher Beschäftigungsgrad. Damit hatte sich Hegels Dialektik erfüllt. Denn Hegel hatte postuliert, dass sich die Entwicklung eines idealen Gemeinwesens in einem Dreischritt von Moralität, Recht und Sittlichkeit vollziehe. Auf der Stufe der Moralität entsteht laut Hegel erstmals ein bewusster, reflektierter Normbezug, wie er für die Gewissensbildung und die gute Lebensführung notwendig ist. Die Moralität, deren Regeln keine Wirklichkeit haben, da es sich nur um Gebote handelt ist jedoch niederrangig. Die Sphäre des Rechts mit ihren konkreten Ausgestaltungen repräsentiert sodann für Hegel eine höhere Ebene als die separate Innerlichkeit eines denkenden Ichs. In der Sittlichkeit sind diese beiden Ebenen schließlich dialektisch aufgehoben und zu einer überpersönlichen Normgestalt kondensiert. Faktisches Sein und normatives Sollen stimmen überein. Für Hegel war diese Stufe bereits im monarchistischen Staat erreicht. Es bedurfte dafür ausdrücklich keiner ethischen Überhöhung wie etwa bei Kant. Vereinfacht könnte man sagen, es genügte laut Hegel, um moralisch-sittlich zu handeln, sich an die bestehenden Gesetze zu halten, „den Sitten seines Volks gemäß zu leben“.
Es ist nun leicht zu sehen, dass sich an diesem rein positivistischen Rechtsverständnis die Kritik entzünden musste. Und Marx ging die Sache gründlich an. Als Anhänger der Linkshegelianer, dem Pendant zum Establishment, war er schon früh in seiner akademischen Laufbahn für die Weiterentwicklung der preußischen Gesellschaft eingetreten. Juristisch geschult und philosophisch promoviert nahm er sich Hegel vor, um ihn „vom Kopf auf die Füße zu stellen“. Dies geschah dergestalt, dass er die Paragrafen der hegelschen Staatslehre einzeln kommentierte und mit einer flammenden Vorrede versah, in der er den rückständigen deutschen Zuständen den Krieg erklärte. Im Kern warf er Hegel vor, in seinem System die determinierende Kraft der tatsächlichen Verhältnisse übersehen zu haben. Damit sei Hegels System ohne Wesen, ohne Natur. Die Philosophie müsse deshalb mit dem Menschen beginnen, sie habe seine wissenschaftlichen, politischen, sozialen und humanistischen Interessen zu berücksichtigen. Staat und bürgerliche Gesellschaft müssten in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden, das im Sinne einer rousseauschen Volonté générale die Interessen aller wirksam zum Ausdruck bringe. Das Herz dieser revolutionären Bewegung war für Marx das Proletariat, ihr Kopf die Philosophie. Denn „die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie. Die Vorrede seiner Anmerkungen zu Hegel schließt dann auch mit der Prophezeiung: „Wenn alle innern Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns.“ Was danach passierte, ist, wie man weiß, Geschichte.
Quellen:
– Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Jubiläumsausgabe, hg. von Hermann Glockner, Stuttgart 1927-1930.
– Marx Engels Werke (MEW), Dietz Verlag, Berlin 1976.
Nach Hegels Tod kam es zu einer Aufspaltung seiner Anhänger in eine „rechte“ und eine „linke“ Gruppierung. Die Rechts- oder Althegelianer wie Eduard Gans und Karl Rosenkranz verfolgten einen konservativen Interpretationsansatz im Sinne eines „preußischen Staatsphilosophen“, zu dem Hegel im Vormärz erklärt worden war, während die Links- oder Junghegelianer wie Ludwig Feuerbach oder Karl Marx einen progressiven gesellschaftskritischen Ansatz aus der Philosophie Hegels ableiteten und weiterentwickelten. Insbesondere Karl Marx wurde durch Hegels Philosophie geprägt, die ihm durch die Vorlesungen Eduard Gans ‚ bekannt wurde. Hegels Philosophie wurde daher einer der zentralen Ausgangspunkte für den Dialektischen Materialismus , der zum Wissenschaftlichen Sozialismus führte. Hegel übte auch entscheidenden Einfluss auf Søren Kierkegaard und die Existenzphilosophie , später vor allem auf Jean-Paul Sartre , aus. Die Methode Hegels, den Gegenstand dadurch zu begreifen, dass alle seine Ansichten zur Darstellung gebracht werden, erlaubte es, dass sich die gegensätzlichsten Vertreter auf Hegel berufen haben und noch heute berufen.