Vor 65 Jahren: Die Koordinaten des Grundgesetzes waren auf einer kleinen Insel in Bayern festgelegt worden. Kurioserweise lehnte ausgerechnet der Freistaat die neue Verfassung im Mai 1949 ab – zusammen mit den Kommunisten, die schon früh nach Osten schielten
Benedikt Vallendar
Bonn – Es sollte ein Neubeginn sein. Nach zwölf Jahren Diktatur, Verfolgung und Terror mit mehr als 60 Millionen Toten weltweit. Als der Parlamentarische Rat, ein mit Billigung der Alliierten arbeitendes Verfassungsgremium, in Bonn im Mai 1949, gegen die Stimmen Bayerns und der Kommunisten, das Grundgesetz verabschiedete, lag Deutschland in Trümmern. Und kaum einer interessierte sich für das, was die letzten überlebenden und überwiegend demokratisch gesinnten Politiker des untergegangenen Reiches in wochenlangen Sitzungen zustande gebracht hatten. Die Deutschen hatten anderes zu tun. Sie räumten weg, was ihnen der Nationalsozialismus hinterlassen hatte. Sie hatten Hunger. Sie hatten, wie Erich Kästner trotzig schrieb, „den Kopf noch fest auf dem Hals”, aber sie hatten genug von Politik. Demokratie war ihnen suspekt. Sie galt als Import der Siegermächte, und die zu schreibende Verfassung verstand man als eine von Briten, Franzosen und Amerikanern auferlegte sinnlose Strafarbeit.
Die Verfassungsarbeiter sahen das anders. Für sie war das Projekt ein Blankoscheck auf eine bessere Zukunft; aber auch sie hatten, wie alle, Angst vor der Zementierung der deutschen Teilung und, vor allem, vor einem neuen Krieg. Die Sowjets hatten im Winter 1948 Berlin abgeriegelt, die Blockade sollte fast ein Jahr dauern. Unter ungünstigeren Vorzeichen ist wohl je kaum eine Verfassung geschrieben worden. Ihre Taufpaten hatten es dabei mit Martin Luther gehalten – und trotz der darniederliegenden Welt ein Bäumchen gepflanzt, aus der die wohl erfolgreichste Pflanzaktion der deutschen Geschichte werden sollte.
Nur drei „Mütter“ des Grundgesetzes
Die Koordinaten dafür hatten die Väter des Grundgesetzes, es waren in Wirklichkeit nur wenige Mütter dabei, im August 1948 in einem ehemaligen Schloss gut auf der Insel Herrenchiemsee in Bayern festgelegt. Darunter die Sozialdemokratin Friederike Nadig, neben der Zentrumspolitikerin Helene Wessel, die später der SPD beitrat und erbitterte Gegnerin der Wiederbewaffnung wurde. Ebenso Helene Weber, die „Mutter der CDU-Fraktion“, die als Vertraute Konrad Adenauers galt. In nur 13 Tagen hatte die Kommission auf Herrenchiemsee den Entwurf für das Verfassungswerk, das sich schlicht „Grundgesetz“ nannte und aus 149 Artikel bestand, zustande gebracht.
Jeden Tag gegen siebzehn Uhr rief der Konventsvorsitzende Anton Pfeiffer die zwanzig bis dreißig Journalisten zur Pressekonferenz, die sich anschließend um die zwei vorhandenen Telefone auf der Insel stritten. Im Konventstock des Alten Schlosses von Herrenchiemsee erinnert heute eine Dauerausstellung an dieses Ereignis.
Die Grundlagen für die Arbeit der Herrenchiemseeer Verfassungskommission hatten die Alliierten wenige Wochen zuvor, auf einer eilig einberufenen Konferenz in London gelegt. Die „Londoner Dokumente“ bildeten den Kern der drei „Frankfurter Dokumente“, worin der Fahrplan zu einer demokratischen Neuordnung der Westzonen vorgegeben war. Zwei Jahre zuvor hatten sich bereits die Länder konstituiert, deren Ministerpräsidenten nunmehr die Vorbereitungen für eine bundesstaatliche Ordnung auf den Weg brachten.
So kam es, dass im Westen aus den Ruinen des Dritten Reiches ein demokratischer Rechtsstaat heranwuchs, der schon binnen weniger Jahre zu einer der führenden Wirtschaftsnationen der Welt aufstieg. Derweil sich Ostdeutschland für vier Jahrzehnte unfreiwillig hinter einem eisernen Vorhang verbarrikadierte und sich seine selbst ernannten Führer ein Legoland aus hohlen Phrasen und bunten Parolen schufen, dessen sinnbildlichster Ausdruck wohl die Trabbi-Autos mit ihrer biegsamen Plastik-Karosserie waren.
Asylrecht für Deutsche
Als im Januar 1949 der Parlamentarische Rat im Bonner Museum König, zum Teil bei Kerzenlicht, die neue Verfassung für einen westdeutschen Teilstaat beriet, zogen Hunderttausende Displaced Persons, Vertriebene aus dem Osten durch die Städte des geschundenen Landes; eineinhalb Millionen Flüchtlinge lagerten allein im kleinen Schleswig-Holstein. In Deutschland herrschten Zustände, wie wir sie heute aus dem Nordosten des Kongo oder der Zentralafrikanischen Republik kennen. Die Mordrate war in den Wirren der Nachkriegsjahre steil angestiegen. Und dennoch stand die Abschaffung der Todesstrafe nicht zur Debatte. Die neue Kriegsgefahr, die Gefahr von Spionage und Anschlägen war mit Händen zu greifen. Doch über das Verbot der Folter stritten die Parlamentäre keinen Augenblick. Sie wussten, was passiert, wenn Demütigung zum Instrument staatlichen Handelns wird. Viele von ihnen hatten die Schrecken der Hitler-Diktatur am eigenen Leib erfahren.
Widerständler gegen Hitler
Einer dieser Leidensgenossen war Hermann Louis Brill, Sohn eines Schneidermeisters im thüringischen Gräfenrhoda, Volksschullehrer, Kriegsteilnehmer von 1914 bis 1918, Mitglied der USPD, seit 1922 der SPD und mit 28 Jahren Ministerialdirektor im thüringischen Innenministerium. Ihm unterstand die Landespolizei, als die Reichswehr 1923 Thüringen unter Ausnahmerecht stellte. Brill war entschieden gegen diese Aktion und stand von da an in vehementer Opposition zu jeglicher Notstandsgesetzgebung. Leidenschaftlich widersetzte er sich allen Versuchen, eine solche ins Grundgesetz zu schreiben – wie es später, 1968, dann doch noch kam.
Brill war seit dem 14. März 1932 Widerstandskämpfer gegen Hitler gewesen, war vom Volksgerichtshof wegen Hochverrats zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt, von US-Truppen am 27. April 1945 aus dem KZ Buchenwald befreit und später in Hessen zum Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei ernannt worden. Als Vertreter Hessens war er einer der 33 Verfassungsfacharbeiter, die in Herrenchiemsee tagten. Er verhandelte dort mit großem diplomatischem Geschick zwischen den extrem föderalistischen Positionen Bayerns und den zentralistischen Vorstellungen seines Parteichefs Kurt Schumacher, der sich an Frankreich orientierte.
Fundament des Wohlstands
Das Grundgesetz hat die Bundesrepublik in Artikel 20 Absatz 1 als „demokratischen und sozialen Bundesstaat“, als Sozialstaat definiert – als Schutz vor dem Absturz und vor Notfällen. Was heutzutage aus dem Blickfeld geraten ist: Der Sozialstaat war zugleich das Fundament der sozialen Marktwirtschaft, von jeher die Geschäftsgrundlage für gute Geschäfte. Was viele ebenso vergessen haben: Von Anfang an ging es dem Sozialstaat des Grundgesetzes nicht um gleiche Vermögen, gleich große Wohnungen und gleich große Autos für jeden; es ging und geht vielmehr um die Förderung der Talente und Kräfte, die in jedem einzelnen stecken.
Einen ganz anderen, zum Teil dramatischen Weg mussten 1948 die Deutschen östlich der Elbe gehen. Eine neue Welt, einen neuen „glücklichen“ Mensch nach dem Vorbild des Homo sovieticus zu schaffen, war das, was sich die SED-Kommunisten unter ihrem späteren Generalsekretär Walter Ulbricht schon im Moskauer Exil auf die Fahne geschrieben hatten. Viele Ostdeutsche glaubten, nach den Jahren des Schreckens, zunächst den vollmundigen Versprechungen und Prophezeiungen der Kommunisten. Doch vierzig Jahre später, im Oktober 1989 stand das Projekt vor denselben Scherben, aus denen es einst hervorgegangen war: Die Gründung des Staates, der sich 1949 vollmundig „Deutsche Demokratische Republik“ nannte, war weder demokratisch noch trug er Züge einer Republik, einer Res publica, bei der die Interessen des Volkes im Zentrum politischen Handelns stehen. Die so genannte „DDR“ war von alledem weit entfernt; vielmehr war sie ein beredtes Beispiel dafür, wie tugendhaft klingende Begriffe ins Gegenteil pe
rvertiert werden können und welchen Preis Menschen dafür zahlen müssen, wenn sie in deren Sog geraten. Flucht, Vertreibung und die vielen Opfer an der innerdeutschen Grenze sind stumme Zeugen eines dunklen Kapitels deutscher Geschichte, dessen Wunden nur oberflächlich verheilt sind. Noch immer leiden Menschen unter den Folgen der kommunistischen Zwangsherrschaft zwischen Elbe und Oder.
Ein Hauch von Demokratie
Dabei hatte in Ostdeutschland alles so vielversprechend begonnen. Im Mai 1945 war Hitler besiegt worden, sein „Tausendjähriges Reich“ lag in Trümmern. Und nun sollte etwas Neues beginnen, eine neue Gesellschaft, mit anderen, „besseren“ Menschen. Schon früh wurden dafür die Weichen gestellt: Bereits im Juni 1945 erlaubten die Sowjets in ihrer Besatzungszone die Gründung von Parteien; vor allem die Kommunisten machten davon regen Gebrauch, indem sie auch Organisationen außerhalb des Parteiapparats errichteten, etwa die Freie Deutschen Jugend (FDJ) im Jahre 1946 und später den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB). Viele, die aus dem Exil zurückkehrten, sahen in der späteren DDR ihre neue Heimat, allen voran Bertolt Brecht, der aus Kalifornien kommend in der Märckischen Schweiz ein nettes Domizil mit Seeblick und sattem Staatssalär fand.
Wie einst Göring und Goebbels
Doch es sollte anders kommen: Bei der Zwangsvereinigung mit den Kommunisten zur „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED) im April 1946 waren den Sozialdemokraten in der Zone noch Zugeständnisse gemacht worden. Von denen die SED zwei Jahre später nichts mehr wissen wollte. Andersdenkende galten als „Feinde“, wie wenige Jahre zuvor bei Hitler und Goebbels. Wichtige Entscheidungen traf die SED-Spitze fortan alleine. Die Mitglieder der Führungsriege mussten sich keinem Parteitagsvotum mehr stellen, sondern ließen sich Beschlüsse nur noch selbstherrlich bestätigen. Es entstand eine sozialistische Ständegesellschaft, abgesichert durch die allmächtige Staatssicherheit. Damit ging die SED auf Nummer sicher, ideologische Abweichler sollten erst gar keine Bühne bekommen. Wichtige Positionen in Verwaltung, Bildung und selbst in der Justiz besetzte die Partei mit linientreuen Kadern; wer sich dagegen auflehnte, bekam es mit der sowjetischen Geheimpolizei zu tun, die, in trauter Forts
etzung der Nazi-Politik, Lager für politische Gefangene errichtet hatte, unter anderem in Sachsenhausen, nördlich von Berlin, wo sich heute eine Gedenkstätte befindet.
Die Bürger hatten von alledem schon bald genug. Am 17. Juni 1953 gingen sie mutig auf die Straße. Nur mit Hilfe sowjetischer Panzer gelang es, den Aufstand niederzuschlagen und die Macht der SED zu stabilisieren. In Westdeutschland wurde der Tag des Aufstands zum gesetzlichen Feiertag erklärt.
Mit ihrem Versuch, die DDR als Heimat, gar als „Paradies der Werktätigen“ zu verklären, war die SED kläglich gescheitert, was vor allem die wachsenden Flüchtlingszahlen dokumentierten: Bis 1961 verließen knapp zwei Millionen Menschen die DDR; ganze Dörfer im Osten entvölkerten sich, und immer mehr volkseigene Betriebe bekamen die personellen Engpässe zu spüren. Es war die berühmte Abstimmung mit Füßen, die der DDR auch drei Jahrzehnte später den Garaus machen sollte.
Einer, der der diese Entwicklung frühzeitig voraus gesehen hatte, war Kurt Schumacher, Chef der Sozialdemokraten in den Westzonen, der Kommunisten in mehreren Reden als „rot lackierte Faschisten“ bezeichnet hatte und, trotz seiner Sympathie für den Marxismus, als ärgster Widersacher des Regimes galt. Schumacher, Jurist und von jahrelanger KZ-Haft gezeichnet, wusste, dass Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit zwei Seiten ein und derselben Medaille waren, die er nicht erneut zu Grabe getragen sehen wollte, wie im März 1933 bei der Verabschiedung von Hitlers „Ermächtigungsgesetz“.
Doch nicht nur die West-SPD, auch die Alliierten hatten in der Deutschlandfrage andere Vorstellungen als die Russen, die im Krieg immerhin den höchsten Blutzoll gezahlt hatten. Ihre unüberbrückbaren Gegensätze bestärkten Amerikaner und Briten in ihrer Entschlossenheit, nunmehr aus den westlichen Besatzungszonen einen eigenen Staat, die spätere Bundesrepublik, zu bilden. Es sollte eine Erfolgsgeschichte werden.