Das Buch „Leben hinter Mauern“ untersucht den Alltag der Stasi-Mitarbeiter in der DDR
Thomas Claer
„Wie war das denn so, damals im Osten?“, bin ich in den vergangenen 25 Jahren manchmal von Westdeutschen oder Nachgeborenen gefragt worden. Ich versuche ihnen dann immer zu erklären, dass der normale Alltag als „Untertan“ in einer Diktatur oft ähnlich unspektakulär verläuft wie der als Bürger in freien Verhältnissen. Wie aber war es für jene, die selbst an den Hebeln der Macht saßen, die zum Kontroll- und Unterdrückungsapparat des Systems gehörten? Wie verlief der Alltag der hautberuflichen Stasi-Mitarbeiter?
Man ahnt natürlich schon vor der Lektüre der neuen Studie „Leben hinter Mauern. Arbeitsalltag und Privatleben hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR“ von Jenny Krämer und Benedikt Vallendar, dass der treffende Satz von Hannah Arendt über die „Banalität des Bösen“ für die Stasi-Leute nicht anders gilt – nur ein paar Nummern kleiner – als für die Schreibtischtäter des NS-Regimes. Anders aber als diese, die sich bei ihren Untaten ganz maßgeblich von der deutschen Tugend der Pflichterfüllung leiten ließen, saßen die Stasi-Schergen (vielleicht abgesehen von ein paar ganz hartgesottenen Zynikern) noch zusätzlich der Illusion auf, irgendwie auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen oder, wie es im Buch heißt, „eine Mission von welthistorischer Bedeutung zu erfüllen“.
Die praktische Umsetzung dieser Mission war indessen in vieler Hinsicht grotesk. Die Autoren beschreiben den ostdeutschen Sicherheitsdienst als eine in erster Linie gewaltige Selbstbeschäftigungsmaschinerie. „Zumeist bestand ihre alltägliche Arbeit im Recherchieren und Zusammenstellen von Informationen und in der mosaikweisen Ableitung möglicher Querverbindungen, was in der internetlosen Zeit … mit erheblichem Aufwand verbunden war.“ Aus heutiger Sicht betrachtet war all das natürlich eine ungeheure „Verschwendung von Menschen, Mitteln, Steuergeldern“.
Unzählige Kader- und Disziplinarakten haben die Autoren gelesen, zahlreiche Gespräche mit den früheren Akteuren geführt, um zum Ergebnis zu kommen, dass die Akten des MfS „Spiegelbilder einer gigantisch aufgeblähten Sicherheitsarchitektur“ sind, die am Ende „mehr preisgeben über ihre Verfasser als über ihre Opfer, von denen diese Berichte handeln“.
Positiv ist anzumerken, dass die Studie sich stets um Differenzierung bemüht, also auch ausdrücklich anerkennt, dass es in der Stasi – wie überall – Hardliner, aber auch Pragmatiker gegeben hat: „Nicht allerorts hat die Staatssicherheit gefoltert und gedemütigt. Nicht immer war sie damit beschäftigt, Angst in der Bevölkerung zu verbreiten. Und nicht immer ist es einfach, im Alltag der Stasi Komisches von Tragischem und Boshaftes von vermeintlich Gutgemeintem zu trennen.“ Es hat also manchmal auch eine Stasi mit regelrecht „menschlichem Antlitz“ gegeben. Und in der Tat stand in der Stasi-Akte meines Vaters über ihn lediglich, seine „Einstellung zu unserer Gesellschaft“ sei „neutral“, er sei „politisch indifferent“ und „in der Beziehung zu seiner Frau wohl nicht der dominierende Teil“ gewesen. Das hat zweifellos jemand geschrieben, der ihn nicht „in die Pfanne hauen“ wollte. Denn die politischen Witze, die er vielerorts so gerne und oft erzählte, fanden keine Erwähnung.
Ob es wohl heute, fast 25 Jahre nach der Wende, noch jemanden gibt, der der Stasi nachtrauert? Neben einigen verbitterten Altkadern kommen hierfür ironischerweise vor allem die seinerzeit so aufwendig beschatteten oppositionellen und semioppositionellen Schriftsteller in Betracht, für die ihr eigener Bedeutungsverlust im neuen System nicht selten einer traumatischen Erfahrung gleichkam. Nie wieder, so klagten einige von ihnen schon in den 90er Jahren, würden sie so aufmerksame Leser finden wie damals unter den Stasi-Mitarbeitern. Und nach allem, was wir wissen, hält es heute nicht einmal mehr der amerikanische NSA für nötig, alle politischen Internet-Blogs mit der ihnen gebührenden Aufmerksamkeit zu studieren, sondern beschränkt sich auf die automatisierte Suche nach verdächtigen Schlagworten…
Zu den amüsanten Fußnoten in „Leben hinter Mauern“ gehört auch der Umstand, dass viele frühere hauptamtliche Stasi-Leute heute ausgerechnet in der Versicherungsbranche arbeiten. Dass die Stasi jedoch auch schon damals richtig witzig sein konnte, allerdings eher unfreiwillig, steht in diesem Buch nur am Rande und ist ja eigentlich auch ein anderes Thema. Aber als ich vor ein paar Jahren in der Süddeutschen Zeitung einen Bericht über die Offenlegung der Vorgangsakte der Abteilung für Staatssicherheit der Stadt Neubrandenburg über die örtliche „Breakdance-Szene“ (Anfang der 80er Jahre) las, da hat es mir wiederholt die Lachtränen in die Augen getrieben. Was da der Protokollant über die womöglich gefährliche neue Jugendmode aus dem Westen, den „Brechtanz“, schrieb, den eine Hand voll Jugendlicher an öffentlichen Plätzen der Stadt mittels seltsam abgehakter Bewegungen auszuüben pflegte, das war schon ganz große realsatirische Prosa…
Wer mehr über die alltäglich-banale Seite der einst so gefürchteten Krake Stasi erfahren möchte, der möge zu „Leben hinter Mauern“ greifen.
Jenny Krämer / Benedikt Vallendar
Leben hinter Mauern. Arbeitsalltag und Privatleben hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR
Klartext Verlag Essen 2014
253 S., 18,95 EUR
ISBN 978-3-8375-0959-5