Vor 200 Jahren begann der Wiener Kongress. Er drehte das Rad der Geschichte zunächst zurück – und schuf dennoch die Koordinaten einer europäischen Friedensordnung, auf der unser heutiger Wohlstand basiert.
Benedikt Vallendar
Wien – Am Ende herrschte Frieden; kein kalter oder brüchiger, sondern echter Frieden, vom Baltikum bis zu den Pyrenäen und vom Nordkap bis nach Sizilien. Und das fast 50 Jahre lang, bis zum Ausbruch des deutschen-deutschen Bruderkrieges 1866 mit der berühmten Schlacht bei Königgrätz, bei der sich Preußen seine Vormachtstellung im Deutschen Bund vor Österreich sicherte. Der Wiener Kongress, mit dem die europäischen Mächte, einschließlich Frankreich, bei Beginn ihrer Marathonverhandlungen am 18. September 1814 einen vorläufigen Schlussstrich unter zwei Jahrzehnte Krieg mit Napoleon und die Ideen der Französischen Revolution setzten, war Ausgangspunkt einer beispiellosen Entwicklung Europas hin zu einem internationalen Globalplayer, der, neben den USA und allen Unkenrufen zum Trotz, bis heute Maßstäbe setzt.
Die langfristige Bedeutung des Wiener Kongresses für die Schaffung einer europäischen Friedensordnung ist von der modernen Geschichtswissenschaft lange unterschätzt worden. Als erster ernsthafter Versuch, in Europa zu einem dauerhaften Miteinander zu gelangen, sind durch den Wiener Kongress unbestritten historische Meilensteine gesetzt worden. Bereits im Vorfeld des Kongresses hatten sich England, Spanien und die Niederlande über grundlegende Fragen geeinigt: England verzichtete im Juli 1814 auf Waffenlieferungen an die Unabhängigkeitskämpfer in Lateinamerika, die Spanien das Leben schwer machten, und anerkannte zugleich die überseeischen Territorien der Niederlande, mit Ausnahme Ceylons, dem heutigen Sri Lanka, sowie des Kaps der Guten Hoffnung an der Südspitze Südafrikas.
Angst vor „1789“
Auf den ersten Blick war der Wiener Kongress nur ein Who is who? der europäischen Fürstenhäuser, ein Familientreffen des abendländischen Hochadels, der verwandtschaftlich auf vielen Ebenen miteinander verbunden war. Ihn einte der gemeinsame Schock über den Ausbruch der Französischen Revolution im Juli 1789 und deren nicht für möglich gehaltene Auswüchse in Gestalt eines Napoleon Bonaparte, der mit seinem gescheiterten Russlandfeldzug 1812 unwissentlich die Schrecken des 20. Jahrhunderts vorweggenommen hatte.
Groß war im Vorfeld des Feldzuges das Entsetzen gewesen, als Napoleon ankündigte, im Falle eines Sieges in Russland, dort die Leibeigenschaft abzuschaffen. Diese Maßnahme hätte die feudale Machtposition des russischen Adels nachhaltig in Frage gestellt, zumal das Land, anders als Preußen, Frankreich und England, zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur über eine schwach ausgebildete Agrarstruktur verfügte. Eine vorzeitige, zumal noch von außen oktroyierte Aufhebung der Leibeigenschaft hätte für das Riesenreich einen gesellschaftspolitischen Erdrutsch bedeutet. Erst 1865 fühlte sich Russland imstande, auf die Leibeigenschaft seines Bauernstandes zu verzichten, gleichwohl Fortschritt und Entwicklung weiter auf sich warten ließen, und Russland bis heute nicht das wirtschafts-technologische Niveau des übrigen Europa erreicht hat. Im aktuellen Human Development Index (HDI) nimmt das Land nur Platz 55 ein.
Doch im September 1814 tickten die Uhren in Europa noch anders. Ruhe und Frieden sollten einkehren, nach Jahren des Unfriedens und der Gewalt, die den Kontinent seit Ende des Dreißigjährigen Krieges in unvergleichlicher Weise durchzogen hatten. Die selbst ernannten Herrscher von „Gottes Gnaden“ waren wie besessen davon, auf ihre über Jahrhunderte hinweg als unumstößlich geltenden Positionen zurückzukehren. Revolution in Frankreich und amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 hin oder her. Das Rad der Geschichte, unter Führung des österreichischen Außenministers Klemens Wenzel Nepomuk Lothar Fürst von Metternich, zurückzudrehen, war ausgewiesenes Ziel der siegreichen Koalitionäre im Kampf gegen Napoleon Bonaparte.
Der Kongress „tanzt“
In Wien herrschte im September 1814 großer Bahnhof: Der russische Zar Alexander I., der preußische König Friedrich Wilhelm III. sowie zahlreiche deutsche Fürsten und ehemalige Reichsstände hatten sich dort versammelt; zusammen mit diplomatischen Vertretern aus 200 Staaten und vielen, die allein gesellschaftlicher Vergnügungen und der Aussicht auf schnelle, finanzielle Gewinne den Weg in die Hauptstadt der Habsburger Monarchie gefunden hatten. Damals wie heute galt Wien als heimliche Welthauptstadt des Lasters, was sich allein schon an der Anzahl bunter Etablissements für jederlei Geschmack ablesen ließ, wie die Sozialhistorikerin Brigitte Hamann höchst anschaulich nachweisen konnte.
Damals wie heute war Wien ein kultureller Schmelztiegel, ein Anziehungspunkt nicht nur für Handlungsreisende und gekrönte Häupter und deren weitläufige Entouragen. Es verstand sich fast schon von selbst, dass der Kongress von einem bunten Rahmenprogramm, bestehend aus Bällen, Banketten und sonstiger Belustigungen, die von jeher die Phantasie der Literaten und Filmemacher bedienen, begleitet wurde. Die berühmte Bemerkung vom „tanzenden Kongress“ aus der Feder des österreichischen Diplomaten Charles Joseph Fürst von Ligne in einem Brief an den französischen Außenminister Charles Maurice de Talleyrand wurde ein geflügeltes Wort, das Stoff für Diskussionen und allerlei Spekulationen lieferte. Bis heute sind im Wiener Stadtarchiv die Spitzelberichte überliefert, mit denen sich die Teilnehmer des Kongresses gegenseitig aushorchten, da sie sich allenfalls oberflächlich vertrauten und hinter allem und jedem Verrat und immer auch die Gefahr der Übervorteilung witterten.
Die insgesamt angespannte Stimmung unter den Kongressteilnehmern wussten der kaiserliche Hof und seine Günstlinge auf ihre Weise zu händeln, indem sie weder Kosten noch Mühen scheuten, um die Gäste zu unterhalten. Fröhlichkeit und Luxus dieser Festlichkeiten ließen jene glücklichen Tage wiederaufleben, derer sich die herrschenden Klassen vor der Revolution erfreut hatten. Nur einmal versammelten sich die gekrönten Häupter in Wien unter einem Dach – um Beschlüsse zu unterzeichnen, die ihre Experten zuvor in mühevoller Kleingruppenarbeit ausgehandelt hatten. Der Wiener Kongress setzte damit, ganz nebenbei, Maßstäbe für künftiges diplomatisches Arbeiten.
Weichen für ein friedliches Europa
Hehre Ziele hatte sich der Kongress gesetzt: Europa sollte als Pluralität von Staaten restauriert werden, die nicht nur vom eigenen, sondern auch vom Interesse für das europäische Gemeinwohl zusammengehalten wurde. Freiheitsbewegungen galt es zu unterdrücken, was besonders die deutschen Universitäten schon bald zu spüren bekamen. Die Fürsten einte der Glauben an ein europäisches System, dem sich die Wünsche der einzelnen anzupassen hatten. Trotz seiner höchst rigiden und absolutistischen Prinzipien hielt das Wiener Abkommen vom 9. Juni 1815 länger als irgendein anderer vergleichbarer Friede in Europa. Viele der Grenzen, die in Wien gezogen wurden, bestehen noch heute.
Indes lag die historische Bedeutung des Wiener Kongresses weniger in der territorialen Neuaufteilung des Kontinents als vielmehr in den langfristigen Perspektiven, die für eine stabile Friedensordnung Modellcharakter haben sollte. Selbst zwei Weltkriege mit fast 80 Millionen Toten ändern daran wenig.
Als die Fürsten in Wien zusammentrafen, hatte in Europa fast eineinhalbtausend Jahre, nahezu ununterbrochen Krieg geherrscht; mal lokal begrenzt, doch fast immer von Hunger und Seuchen begleitet, denen Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren; derweil sich das Abendland, die Überbleibsel des weströmischen Reiches, abgesehen von Italien und den französischen Denkschulen der Aufklärung, über Jahrhunderte nur im Schneckentempo weiterentwickelt hatte – politisch, gesellschaftlich und vor allem technologisch.
Verhandlungen statt Fehde
Fast schien es, als seien die Teilnehmer des Wiener Kongresses, allen voran der russische Zar Alexander I. und der französische Außenminister Talleyrand, des Kampfes überdrüssig gewesen; als hätten auch sie erkannt, dass sich durch Verhandlungen mehr erreichen lässt als mit Krieg, der bekanntlich fast immer, so hatte es die Geschichte gelehrt, einen Gegenkrieg und damit eine Gewaltspirale zur Folge würde. Talleyrand, gelernter Pfarrer und brillanter Vorausdenker, der zuvor in Napoleons Diensten gestanden hatte, war es als Gesandter des reinthronisierten Bourbonen-Königs Ludwig XVII. gelungen, sein Land an den Tisch der europäischen Mächte zurückzuführen. Die Feuerbrunst, mit der die Französische Revolution und ihre aus Massenerhebungen (levée en masse) hervorgegangenen Volksheere den Kontinent binnen weniger Jahre heimgesucht hatten, hatte die europäischen Monarchien aufschrecken und ihre traditionellen Rivalitäten für kurze Zeit in den Hintergrund treten lassen.
Der Wiener Kongress nahm damit jene Stimmung vorweg, die knapp hundertvierzig Jahre später, bei Unterzeichnung der EWG-Verträge in Rom 1957, zwischen den wenige Jahre zuvor noch bis aufs Blut verfeindeten europäischen Staaten geherrscht hatte: Damals wie nach dem Sieg über Napoleon stand Europa vor einem Scherbenhaufen, verwüsteten Städten und Landstrichen, in denen Millionen Tote, Versehrte und Heimatvertriebene zu beklagen waren. So etwas sollte, durfte sich nicht wiederholen; darin waren sich die europäischen Mächte, einschließlich des besiegten Frankreich, einig.
Frieden auch in Übersee
Die Verhandlungen in Wien zogen sich über Monate hin. England hatte mit der Neuordnung seines kolonialen Besitzes eines seiner wichtigsten, außenpolitischen Ziele bereits im Vorfeld durchsetzen können. Gegensätze entzündeten sich vor allem an der polnischen Frage und am Schicksal Sachsens, das auf Seiten Napoleons gefochten hatte und dafür mit Gebietsabtretungen abgestraft werden sollte. Beide Fragen waren eng miteinander verknüpft. Zar Alexander I. wollte das ganze polnische Gebiet, einschließlich Sachsens, als Königreich in Personalunion mit Russland verbunden unter seinen Einfluss bringen, während der preußische König Friedrich Wilhelm III. Sachsen als Entschädigung für seine verlorenen Ostgebiete beanspruchte.
Derweil den übrigen Mächten das preußisch-russische Geschachere um Gebietsabtretungen nicht entgangen war. Am 3. Januar 1815 schlossen England, Frankreich und Österreich eine Allianz zur Abwehr russischer und preußischer Ansprüche, was zeigt, wie groß das Misstrauen war. Kurz darauf lenkte Preußen ein: Es verzichtete auf Sachsen, annektierte aber dessen nördliche Gebiete und wurde im Rheinland entschädigt, wo sich in den darauffolgenden Jahrzehnten ein leidenschaftlicher Konflikt zwischen mehrheitlich katholischer Bevölkerung und preußischer Beamtenschaft entzündete. Polen erlebte eine weitere Teilung, während Preußen sein Territorium nahezu verdoppeln und seine Stellung in Deutschland nachhaltig stärken konnte.
Rückkehr der Quadriga
Am 7. März 1815 ereilte die Kongressteilnehmer die Meldung von der Rückkehr Napoleons nach Paris von der Insel Elba, wohin ihn die Sieger der Leipziger Völkerschlacht von 1813 halbherzig verbannt hatten. Doch der vermeintliche Wiederaufstieg des Korsen und selbst ernannten „Kaisers der Franzosen“, währte nur kurz. Nach der Schlacht bei Waterloo im Juni 1815, die mit dessen endgültiger Niederlage und Verbannung nach Sankt Helena im Nordatlantik endete, kam es am 20. November 1815 zum zweiten Pariser Frieden: Frankreich wurde im Wesentlichen auf seine Grenzen von 1790 zurückgestutzt; es musste unter anderem Saarbrücken und Saarlouis an Preußen abtreten und eine Kriegsentschädigung in Höhe von 700 Millionen Francs zahlen; neben der Verpflichtung, geraubte Kunstschätze, darunter die berühmte Quadriga auf dem Brandenburger Tor in Berlin, zurückzugeben und ausländische Besatzungstruppen auf seinem nördlichen Territorium zu dulden. Auch in diesem Punkt erinnerte in Wien vieles an das Ende des zweiten Weltkrieges im Mai 1945 und den anschließenden Neubeginn in Europa.