Pflichtlektüre: Peter Sloterdijks „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“
Thomas Claer
Peter Sloterdijk war schon immer ein Philosoph, der es krachen ließ. Leisetreterei und Zurückhaltung sind ihm zeitlebens ebenso fremd geblieben wie trockenes Akademisieren. Unentwegt sucht er die Öffentlichkeit. Eckt er mit seinen Positionen irgendwo an, treibt er sie anschließend erst recht auf die Spitze. All das hat natürlich hohen Unterhaltungswert. So war er stets gefragt in allen Medien bis hin zum öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das ihn, den Philosophie-Professor, mehr als zehn Jahre lang eine eigene Talkshow ausrichten ließ. Dabei gelang ihm das Kunststück, diese Rolle mit Bravour und ohne größere Zugeständnisse an die seichte und verblödete Massenkultur auszufüllen. Im Gegenteil, Sloterdijk verlangte seinen Zuschauern (wie auch seinen Lesern) gedanklich stets eine Menge ab. Er ließe sich sogar als Musterbeispiel eines kritischen, sich jederzeit in gesellschaftliche Belange einmischenden Intellektuellen bezeichnen, hätte er nur nicht diesen starken Hang zur Provokation, zum geistigen Krawall, zu politisch unkorrekten Haltungen, der ihn insbesondere in den Augen seiner (immer auch etwas neidischen) Fachkollegen immerfort verdächtig macht.
Dass man ihm 2012 sein „Philosophisches Quartett“ wegnahm und seinen Sendeplatz stattdessen einem deutlich jüngeren Dünnbrettbohrer überließ, muss ihn tief gekränkt, aber auch herausgefordert haben. Waren seine Bücher in den letzten Jahren ohnehin zusehends packender und interessanter geworden, so präsentiert er sich nunmehr, zu Beginn seines gesetzlichen Rentenalters, in der schriftstellerischen Form seines Lebens. Nie war er, das lässt sich ohne Übertreibung sagen, als Buchautor so gut wie heute! Und mit den „Schrecklichen Kindern der Neuzeit“ liefert er einen kulturhistorisch-anthropologischen Paukenschlag, wie wir ihn lange nicht erlebt haben.
Zwar stimmt es schon, dass der reife Sloterdijk bevorzugt in die linke Ecke keilt, was mit dem Furor des Renegaten zu tun haben mag, dem es im angestammten linksalternativen Milieu irgendwann zu eng geworden ist. Doch in ihm einen „Autor für AfD-Wähler“ zu sehen, wie es SPIEGEL-Online-Rezensent Georg Diez in seiner Rezension dieses Werkes getan hat, lässt sich wohl nur als Folge ideologischer Voreingenommenheit des Kritikers oder einer allenfalls flüchtigen Buchlektüre erklären. Nein, Sloterdijk ist natürlich kein Autor für AfD-Wähler. Mit einem Wut-Bürgertum, das sich in platte Ressentiments flüchtet, hat dieser Autor nicht viel zu tun. Vielmehr erzählt er in seinem Buch die Menschheitsgeschichte noch einmal neu, indem er sie durch die Brille der menschlichen Generationenabfolgen betrachtet. Ähnlich wie einst Horkheimer und Adorno in ihrer legendären „Dialektik der Aufklärung“ führt er dem Leser dabei vor Augen, welch ein unerhörtes Wagnis die moderne Welt doch ist. Die – verglichen mit allen traditionellen Formen menschlichen Zusammenlebens – tiefen Umbrüche im Verhältnis zwischen Eltern und ihren Kindern in den vergangenen Jahrhunderten nennt er „das anti-genealogische Experiment der Moderne“.
Besonders interessant sind aber die Vorläufer dieses Experiments. Als erstes sind da die altgriechischen Philosophen mit Sokrates an der Spitze, der „völlig zu Recht“, wie Sloterdijk süffisant bemerkt, als ein „Verderber der Jugend“ zum Tode verurteilt wurde. Denn er setzte den jungen Leuten den Floh ins Ohr, sich eigene kritische Gedanken zu machen und die natürliche Autorität ihrer Eltern in Frage zu stellen, die doch – wie alle Elterngenerationen zuvor seit Menschengedenken – das Ziel verfolgten, den etwaigen eigenen Willen ihrer Kinder zu brechen und sie zur Übernehme des Lebensstils ihrer Eltern zu zwingen. Was heute Individualität und Innovation heißt, nannte man damals Sünde. Als zweiten und (was kann schon Aufklärung gegen Religion ausrichten?) natürlich viel bedeutsameren Vorläufer der schrecklichen Kinder der Neuzeit sieht Sloterdijk das Christentum, vor allem in der Person seines Begründers. Jesus von Nazareth war gewissermaßen ein schreckliches Kind, wie es im (heiligen) Buche steht. Die gut 30 Seiten über den „Bastard Gottes“ sind zweifellos der amüsante Höhepunkt in Sloterdijks Studie. In Sachen Blasphemie knüpft der Autor hier nahtlos an diesbezügliche Highlights wie den Monty-Python-Film „Das Leben des Bryan“ oder den Torfrock-Song „Rollos Taufe“ an. Sehr plausibel spekuliert er über den Tatsachen-Kern der Jesus-Legende, den er in einem zutiefst menschlichen Komplex des „seltsamen Wunderheilers“ aufgrund seiner ungeklärten Abstammung vermutet. Zwar distanziert sich Sloterdijk ausdrücklich von denjenigen, die im Christentum die Anfänge des modernen westlichen Universalismus erblicken. (Immerhin konnte bei den Urchristen jeder, der es wollte, mitmachen, doch verstanden sie sich fraglos als elitären Kreis der wenigen Gerechten, die allein dem drohenden Weltuntergang entkommen zu können glaubten.) Jedoch stiftete Jesus für seine Anhänger erstmals eine neue Art von Gemeinschaft als Alternativangebot zur jeweils eigenen Familientradition, worin Sloterdijk den Anfang einer schrittweisen Entwertung traditioneller Familienstrukturen sieht. In den folgenden Jahrhunderten, in denen sich die Kirche zur machtorientierten und –bewussten Großinstitution wandelte (auch diesen Weg zeichnet Sloterdijk eindrucksvoll nach), etablierte sich mit dem Klosterwesen im Mittelalter (der Autor verweist auch auf Parallelen im Buddhismus) eine noch weitaus umfassendere Gegenwelt zur weltlichen Familie. Wer aussteigen wollte aus dem Hamsterrad familiärer Erwartungen und Zumutungen, der ging ins Kloster oder als Eremit in die Einsamkeit der Berge.
Mit der Moderne, die laut Sloterdijk so heißt, weil in ihr die Mode (durch jeweils angesagte zeitgenössische Vorbilder) Vorrang vor der Tradition hat (vor allem vor der Autorität der Vorfahren), brechen dann alle Dämme. Als erstes Gesetz der Moderne bezeichnet der Autor seine Beobachtung, dass sie stets größere Überschüsse an Verheißungen, Wünschen und Ambitionen produziert, als sich in der Folge noch unter Kontrolle bringen lassen. Daher die vielen Unfälle und Kollateralschäden in der modernen Welt, die in einem gesonderten Kapitel als „Drift ins Bodenlose“ beschrieben werden. Gibt man jedem Menschen eigene Rechte, dann weckt dies natürlich allerorts Begehrlichkeiten, und irgendwann treten alle mit allen in ständige Konkurrenz um Status, Macht und Anerkennung. Es muss in diesem Wettbewerb aber immer auch Verlierer geben, die sich dann mit aller Macht Genugtuung verschaffen wollen. (So gesehen wäre beispielsweise der IS, seiner mittelalterlichen Ideologie zum Trotz, ein typisches Produkt der Moderne, weil er die sozialen, wirtschaftlichen und Bildungsverlierer aus aller Welt zu einem monströsen kollektiven Rache-Feldzug gegen die Etablierten aller Länder rekrutiert.)
Wie man sieht, nimmt Peter Sloterdijk also in seiner großen Erzählung – was ihm seine Kritiker verübeln – nicht gerade die Perspektive eines Parteigängers des Fortschritts ein. Andererseits lässt er aber auch nicht den geringsten Zweifel daran, in welcher Hölle sich die Menschen in ihren traditionellen Milieus befunden haben und teils heute noch befinden. Dieser Autor hält der modernen Welt den Spiegel ihrer eigenen Abgründe vor und steht im Übrigen als notorischer Spötter am Rande des Geschehens. Als Nihilist, als Defätist, als ein Klugscheißer, der über alles lästert, ohne konstruktive Vorschläge zu unterbreiten, wie man es denn besser machen könnte. Unverantwortlich sei das, werfen ihm seine Gegner vor. Aber dieses Spotten gelingt Sloterdijk mit großer Treffsicherheit und in einer einzigartigen sprachlichen Brillanz. Da stört es dann auch nicht mehr, dass er in seinen, sagen wir, älteren Tagen wohl endgültig vom Kyniker zum Zyniker geworden ist, der den Glauben an die Verbesserbarkeit der Welt schon längst verloren hat. Zu einem von jenen, vor denen er seine Leser in der „Kritik der zynischen Vernunft“ (1983), seinem ersten großen Werk, noch inständig gewarnt hatte: „Die Frechheit hat die Seite gewechselt.“ Das kommt ja öfter vor: Die größten Kritiker der Elche werden später selber welche. War bei Goethe auch schon so. Alles geschenkt, solange er so gut schreibt.
Peter Sloterdijk
Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne
Suhrkamp Verlag Berlin 2014
489 Seiten, EUR 26,95
ISBN-13: 978-3518424353