Zyklen statt Value

Das Börsenbuch „Das Börsenbuch“ von Thomas Müller und Alexander Coels

Thomas Claer

borsenbuchHier geht es aber mal so richtig zur Sache! Ein 500 Seiten dickes Börsenbuch mit dem Titel „Das Börsenbuch“ legen die Autoren Thomas Müller und Alexander Coels vor, was natürlich suggeriert, dass man außer diesem ganz bestimmt kein weiteres Börsenbuch bräuchte, um sich an der Börse zurechtzufinden. Aber braucht man denn dazu heutzutage überhaupt noch ein Börsenbuch, wo sich doch alles, was man über die Börse wissen muss, ohnehin schon im Internet finden lässt? Um es gleich zu sagen: In diesem Buch ist manches anders, als man denkt. Man kann nur jeden Leser davor warnen, sich an der Börse allein auf den Inhalt dieses Buches zu verlassen. Und doch steht eine Menge äußerst nützlicher Informationen darin, die man in dieser Genauigkeit sicherlich nirgendwo im Internet finden wird. Das Buch sollte aber statt „Das Börsenbuch“ lieber „Das große Buch der Börsenzyklen“ heißen, denn auf 338 der 502 Seiten geht es explizit um diese – und auf den restlichen Seiten indirekt letztlich auch…

Börsenzyklen also. Was soll man sich darunter vorstellen? Man kann es vielleicht mit dem „Hundertjährigen Kalender“ vergleichen, der im 17. Jahrhundert von Mauritius Knauer, einem Abt des Klosters Langheim, zur Vorhersage des Wetters in Franken verfasst wurde, um die klösterliche Landwirtschaft zu optimieren. Vereinfacht gesagt machte Knauer über einen langen Zeitraum präzise Wetterbeobachtungen für jeden Tag eines Jahres und erstellte dann aus den jeweiligen Durchschnittswerten seine Prognose für jeden Tag der kommenden Jahre. Aus meteorologischer Sicht ist das natürlich nicht haltbar. Übereinstimmungen werden von Fachmeteorologen als Zufälle gewertet. Und dennoch funktioniert dieser Kalender gar nicht so schlecht, weil sich die Erde grundsätzlich auf die gleiche Weise Jahr für Jahr um die Sonne und Tag für Tag um die eigene Achse dreht, während die Wetterberichte mit ihren kurzfristigen Vorhersagen bekanntlich auch oft danebenliegen.

Aber wie soll man mit diesem Ansatz künftige Börsenkurse vorhersagen können? Nun, bekanntlich sind die diesbezüglichen Prognosen unserer „Finanzmarktmeteorologen“, also der Wissenschaftler der Volks- und Betriebswirtschaftslehre, in der Regel so unzuverlässig, dass man nun wirklich nicht viel auf sie geben kann. Und ja, so wie das Wetter folgen auch die Börsenkurse bestimmten zyklischen Mustern. Jeder, der sich für die Börse interessiert, weiß, dass der September im langjährigen historischen Durchschnitt der bei weitem schlechteste Börsenmonat und die saisonal stärkste Phase jene von Oktober bis April ist. Aber wer weiß schon, dass Montage im Schnitt die schlechtesten und Freitage die besten Wochentage an der Börse sind oder dass die zweite Hälfte eines Jahrzehnts fast immer eine wesentlich bessere Kursentwicklung bringt als die erste? Woran das liegt? Man weiß es nicht genau, und hier wird die Vorgehensweise der Autoren Müller und Coels etwas problematisch. Sie blenden solche weitergehenden Fragen nahezu komplett aus und folgen gewissermaßen blind ihren in wahrlich beeindruckender Vielfalt vorgelegten langjährigen Verlaufsmustern. (Die diesen zugrundeliegenden Daten reichen für den deutschen Markt bis 1960, für den amerikanischen bis 1896 zurück). Als Absicherung gegen Kursverluste empfehlen sie lediglich die Orientierung an technischen Indikatoren wie dem Unterschreiten der 200 Tage-Linie oder die ergänzende Verwendung von Put-Optionsscheinen.

Man kann es schon kurios finden, dass in einem Börsenbuch weder Begriffe wie Kurs-Gewinn-Verhältnis, Kurs-Buchwert-Verhältnis noch Dividenden-Rendite vorkommen, dass weder die Rolle der Geldpolitik der Notenbanken für die Börse noch die des Geschäftsmodells für den Erfolg eines Unternehmens erklärt wird. Gewiss, die in den Börsenberichterstattungen nachgeschobenen Erklärungen für fallende oder steigende Kurse anhand realwirtschaftlicher Entwicklungen kann man getrost in der Pfeife rauchen („Die Kurse machen die Meldungen“, lautet zurecht ein beliebtes Börsen-Bonmot), und der langjährige Erfolg der Autoren mit ihrer Methode scheint ihnen ja auch Recht zu geben. Aber etwas mulmig wird einem doch bei Sätzen wie diesem auf S.20: „Es gibt keine wirkliche ‚Begründung‘ für Kursentwicklungen. Entscheidend ist einzig und allein, was die Kurse machen, und die Aneinanderreihung von Kursen ergibt Trends, und nur in Trends kann an der Börse Geld verdient werden…“ (Hier würde ich ausdrücklich widersprechen: Wer Aktien von hochwertigen Unternehmen mit stabilem Geschäftsmodell, hoher Dividendenrendite und kontinuierlich steigender Dividendenausschüttung besitzt, dem können die Trends der Kursverläufe sogar schnurzegal sein. Er kann sich zurücklehnen und sich zumindest für lange Zeit jahraus, jahrein über seine Dividendenerträge freuen.)

Auf S.25 heißt es dann: „Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden sich die Kurse in den kommenden 100 Jahren ähnlich entwickeln wie in den vergangenen.“ Woher um alles in der Welt wollen die Autoren das nur wissen? Es stimmt, dass sich die amerikanischen wie die deutschen Börsenindizes in ihrem langjährigen Verlauf immer wieder zum Mittelwert eines jährlichen Ertrags von 9 Prozent einschließlich ausgeschütterter Dividenden bewegt haben. Aber die Börsenentwicklung kann gar nichts anderes sein als ein zeitversetzter Spiegel der Realwirtschaft (Kostolany! Herr! Hund!). Wenn die Unternehmen irgendwann kein Geld mehr verdienen, dann können sie ihren Aktionären keine Dividenden mehr bezahlen, dann gibt es keinen Grund mehr für irgendjemanden, ihre Aktien zu kaufen, außer als irres Spekulationsobjekt. Es hat in der Menschheitsgeschichte immer wieder Phasen ohne ein nennenswertes Wirtschaftswachstum gegeben, beispielsweise, soweit mir bekannt ist, lange Jahrhunderte des Mittelalters. Die dem „Börsenbuch“ zugrundeliegende Börsenhistorie fällt mit einem – nur vorübergehend unterbrochenen – nahezu kontinuierlichen Wirtschaftswachstum zusammen. Sollte irgendwann die ganze Welt von der „japanischen Krankheit“, der lange anhaltenden Wachstumsschwäche, befallen werden und die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen global in einen Zustand der Sättigung übergehen, dann war es das vermutlich mit den steigenden Börsenkursen. Nun wird mancher vielleicht einwenden, eine solche Entwicklung sei aus heutiger Sicht schlichtweg unvorstellbar. Für die nächsten mindestens 20 Jahre glaube ich das auch, da der Wohlstandshunger der Schwellenländer im Zweifel auch die etwaigen Stagnationen in der westlichen Welt kompensieren und insbesondere die Geschäfte der Exportnationen bis auf weiteres gut anheizen dürfte. Aber hat eigentlich schon mal jemand zu Ende gedacht, wohin es führen wird, wenn mit der fortschreitenden Digitalisierung immer mehr Arbeitsplätze – von der Zugbesatzung über die Postausträger und Fließbandarbeiter aller Art bis zu den Taxi-, Bus- und Lkw-Fahrern – früher oder später wegfallen werden und was das für die weltweite Nachfrage nach Konsumgütern bedeuten wird? Insofern kann einem die Abgabe von Prognosen für den Aktienmarkt der nächsten 100 Jahre schon als recht waghalsig erscheinen.

„Welche Krisen auch in der Zukunft auf uns zukommen mögen, früher oder später werden die Aktienbörsen ihre Kursniveaus vor der Krise zurückerobern und neue Höchstkurse markieren“, heißt es auf S. 35. Klar, denn in der Börsengeschichte ist es ja bisher auch immer noch mal gutgegangen. Nach dieser Logik müsste sich allerdings jeder Mensch für unsterblich halten, denn in seinem bisherigen Leben hat er sich ja schließlich auch von jeder Krankheit  wieder erholt. Und so sorglos-frisch-fröhlich geht es weiter im Buch: „Wir können uns auf den Kopf stellen, aber die Zielrendite von Dax und Dow Jones beträgt 9 Prozent jährlich.“ (S.42) „Die Aktienmärkte kennen langfristig nur den Weg nach oben.“ (S.45) Wohlgemerkt: Die etwas reißerisch auf dem Buchtitel verkündete  Zielmarke für den Dax im Jahr 2039 von 100.000 Punkten halte ich keineswegs für aus der Luft gegriffen, die im Schlusskapitel „Börsenvision“ anvisierten exorbitanten Marken für die entferntere Zeit danach hingegen schon. (Das spricht, nebenbei gesagt, aus meiner Sicht auch dafür, lieber heute als morgen in Aktien zu investieren.) Es ist natürlich grundsätzlich richtig, dass die möglichst einfachen Strategien an der Börse meistens erfolgreicher sind als die zu komplizierten, und es ernten ja auch die dümmsten Bauern mitunter die größten Kartoffeln. Aber sich als denkender Mensch deshalb gedankliche Scheuklappen anzulegen oder gar einfach seinen Kopf abzuschalten, scheint mir dann doch keine gute Lösung zu sein.

Kurz gesagt, die Autoren schießen mit ihrem im Prinzip wohlbegründeten Ansatz aufgrund ihrer methodischen Maßlosigkeit häufiger über das Ziel hinaus. Abgesehen davon liefert das „Börsenbuch“ aber eine ungeheure Fülle von Material, mit dessen Hilfe sich an der Börse – ergänzend zu anderen bewährten Methoden – langfristig unter Zyklengesichtspunkten (vermutlich gewinnbringend) agieren lässt. Positiv ist ferner zu vermerken, dass im Buch eindringlich vor Börseninvestments auf Pump gewarnt wird und – immerhin – in einem Kasten auf S. 464 kurz das Liquiditätsmanagement von Warren Buffett vorgestellt wird, ohne jedoch weiter auf seinen Value-Ansatz einzugehen. Mit ihrem Eingangskapitel „Warum jeder an der Börse investieren sollte“ rennen die Verfasser beim verständigen Leser hoffentlich ohnehin offene Türen ein.

Machen wir abschließend noch die Probe aufs Exempel und wagen wir eine Börsenprognose für den Dax und den Dow Jones für das Jahr 2015 auf der Basis des in diesem Buch aufgezeigten Zyklenansatzes. (Deren Treffsicherheit mag dann jeder Leser selbst nach 12 Monaten beurteilen.) Beginnen wir mit dem in der Vergangenheit treffsichersten Indikator, dem Wahl-Zyklus: 2015 ist in Deutschland ein Zwischenwahljahr (durchschnittliche Dax-Performance +16,1 Prozent) und in den USA ein Vorwahljahr (durchschnittliche Dow Jones-Performance +12,3 Prozent). Das verspricht jeweils eine deutlich überdurchschnittliche Kursentwicklung im neuen Jahr. Hinzu kommt, dass sich der Dax in der Regierungszeit großer Koalitionen mit durchschnittlich +12,37 Prozent deutlich besser entwickelte als unter sonstigen CDU-geführten (+8,71 Prozent) oder SPD-geführten (-0,37 Prozent) Regierungen. Auch der Dow-Jones lief unter demokratischen Präsidenten mit +7,58 Prozent besser als unter republikanischen mit +3,64 Prozent. Auch das scheinen also sehr gute Vorzeichen für das neue Börsenjahr zu sein. Nun soll aber auch noch der Jahrzehnt-Zyklus zu seinem Recht kommen: Der Dax performte in Fünferjahren bisher im Schnitt mit sagenhaften 25,81 Prozent. Der Dow Jones übertrifft dies noch mit geradezu unglaublichen 31,44 Prozent. (Tatsächlich sind Fünferjahre in beiden Indizes die besten Jahre überhaupt.) Bessere Vorgaben kann man sich vom Jahrzehnt-Zyklus her also nicht wünschen. Weiterhin ist der Zyklus der Vier-Jahres-Tiefs zu erwähnen. Und tatsächlich ist 2014 (wie zuvor 2010, 2006, 2002 u.s.w.) ein Jahr gewesen, in dem Dax und Dow Jones im Herbst – wie auf Bestellung – einen markanten Tiefpunkt ausgebildet haben. Anschließend kommt es meistens zu einer längeren stärkeren Aufwärtsbewegung. Also auch dieser Indikator liefert positive Signale. Bleibt noch der überaus wichtige Januar-Indikator, wonach die drei Faustformeln gelten: „Erster Handelstag gut, ganzes Jahr gut“, „Erste Handelswoche gut, ganzes Jahr gut“ und „Ganzer Januar gut, ganzes Jahr gut“. Der erste Indikator ist 2015 allerdings negativ ausgefallen, denn der erste Handelstag brachte am vorigen Freitag für Dax und Dow Jones leichte Verluste. Doch könnte insbesondere ein guter erster Gesamtmonat noch alles herausreißen, denn die Trefferquote des Januar-Indikators liegt beim Dow Jones bei 74 Prozent, beim Dax nur bei 61 Prozent.

Fazit: Aus Zyklensicht deutet sich ein geradezu exzellentes Börsenjahr 2015 an, wobei aber sicherheitshalber noch der Januar abgewartet werden sollte. Und wie sind die Vorgaben für 2015 aus allgemeiner Sicht jenseits der Börsenzyklen? Von den Unternehmensgewinnen her ist der Dow Jones (gemessen am auf 10 Jahre geglätteten Shiller-KGV) bereits ziemlich hoch bewertet, der Dax mit seinen jetzt knapp 9.800 Punkten hingegen etwa seinem langjährigen Durchschnittswert entsprechend, also weder zu teuer noch zu billig. Berücksichtigt man noch den anhaltenden geldpolitischen Rückenwind in Europa durch die Niedrigzinspolitik und die womöglich noch weiteren ergänzenden Maßnahmen der EZB auf der einen Seite und die angekündigte Zinswende der Fed auf der anderen Seite, spricht viel für eine stärkere Entwicklung europäischer, insbesondere deutscher Aktien, aber auch einiges für eine relativ schwächere Entwicklung amerikanischer Aktien. Bedenkt man dann noch die konjunkturfördernde Wirkung des niedrigen Ölpreises und des niedrigen Eurokurses für Deutschland, dann kann man schon fast von einem rundum positiven Gesamtbild für den deutschen Aktienmarkt sprechen. Einzige, aber nicht unwesentlicher Schönheitsfehler sind die drohenden politischen Störfeuer, insbesondere aufgrund der Russland-Problematik, und die noch nicht vollständig ausgestandene Euro-Krise. Doch da politische Börsen in aller Regel kurze Beine haben, könnten sich aufgrund der etwaigen politisch bedingten Volatilität im Jahresverlauf sogar besonders lukrative Einstiegsmöglichkeiten bieten.

Zu Risiken und Nebenwirkungen dieser Börsenprognose konsultieren Sie ein Börsenbuch Ihrer Wahl oder das Internet, aber fragen Sie niemals Ihren ahnungslosen Bankberater.

Thomas Müller, Alexander Coels
Das Börsenbuch
TM Börsenverlag 2014
502 Seiten, 39,95 €
ISBN-10: 3930851814

Justament-Rezensent Thomas Claer ist Autor des Börsenbuches „Auf eigene Faust. Aktiensparen für Kleinanleger“.

Veröffentlicht von on Jan. 5th, 2015 und gespeichert unter DR. CLAER EMPFIEHLT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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