Die Angst der Mächtigen vor dem Rechtsstaat

Vor 40 Jahren: Mit Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki am 1. August 1975 verpflichtete sich die DDR zur Achtung der Menschenrechte. Um jedoch Freiheitsbestrebungen im eigenen Land schon im Keim zu ersticken, ersann Stasi-Minister Erich Mielke die berüchtigte „Richtlinie 1/76“, die eine geheime Verschlusssache war.

Benedikt Vallendar

 

Berlin / Helsinki – Mutig war sie schon, als Ulrike Poppe in den achtziger Jahren mit Gleichgesinnten den ersten, unabhängigen Kinderladen der DDR eröffnete. Und das ohne staatliche Genehmigung, die sie wahrscheinlich eh nicht gekriegt hätten. Zehn bis fünfzehn Kinder spielten dort unbeschwert und ohne den in staatlichen Kindertagesstätten oft üblichen Drill, der bis zum gemeinsamen Gang aufs Töpfchen reichen konnte; egal, ob die Kleinen nun „mussten“ oder nicht. Das Besondere damals: Der unscheinbare Kinderladen in einer Ostberliner Nebenstraße war nicht nur eine Spielidylle für Kinder, sondern zugleich ein  Seismograph für das gesellschaftspolitische Klima in der DDR zu jener Zeit. Anders ist es wohl kaum zu erklären, weshalb sich kurze Zeit später sogar der Geheimdienst für den Laden interessierte.
Am 1. August 1975 hatte SED-Generalsekretär Erich Honecker (siehe Foto) mit seiner Unterschrift unter die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ein Papier unterzeichnet, aus dem seine Untertanen schon bald mehr herauslasen, als es den Genossen lieb war. Und sie nervös werden ließ, aus Angst, die bis dahin tabuisierten Missstände in Staat und Gesellschaft könnten publik werden. Denn regelmäßig stand die DDR vor einem fast unlösbaren Dilemma: Einerseits sah sie sich als bürgerfreundlicher Staat, andererseits hielt die SED eisern an ihrem Machtmonopol fest. Es musste also ein Weg gefunden werden, diesen Spagat zwischen Wunsch und Wirklichkeit auf Dauer zu bestehen, ohne dabei das Gesicht und vor allem die Macht zu verlieren. Die SED musste sich etwas einfallen lassen, wollte sie verhindern, dass sich Bürgerproteste verselbstständigten, dass der einmal in den See geworfene Kieselstein Wellen erzeugte, die am Ende unkontrollierbar waren und die Partei aus ihrem fest geglaubten Sattel hoben. Somit war auch dem Ostberliner Kinderladen kein langes Leben beschieden. 1985 wurde er von Mitarbeitern der Staatssicherheit aufgelöst und das große Fenster zur Straße hin zugemauert. Nichts sollte daran erinnern, dass es Bürger gewagt hatten, etwas „Eigenes“ auf die Beine zu stellen; gewagt hatten, jenseits der Parteidoktrin zu denken und zu handeln. Dabei wäre genau das dringender denn je gewesen. Poppes Kinderladen, so harmlos er schien, bewegte sich in einem Graubereich zwischen Duldung und Illegalität, da das Erziehungsmonopol in der DDR beim Staat lag; und dessen Sicherheitsorgane jede Normabweichung mit Argwohn betrachteten. Was auf den ersten Blick unpolitisch schien, war in Wirklichkeit ein Politikum, da Einrichtungen wie der Ostberliner Kinderladen, der schon bald Nachahmer fand, den Finger in offene Wunden legten. Denn im Gegensatz zum westdeutschen Grundgesetz, das allein den Eltern ein Erziehungsrecht über ihren Nachwuchs zuspricht, war es in der DDR der Staat, der sich den Zugriff auf „seine“ Jugend sicherte. Wer bei den Jungen Pionieren (JP) oder in der FDJ nicht mitmachte, etwa weil sie oder er aus einem christlichen Elternhaus kamen, war in vielem benachteiligt, konnte oft nicht studieren, oder zumindest nicht den gewünschten Beruf ergreifen. Dieses System der Ausgrenzung, das elementare Freiheitsrechte der Bürger in Frage stellte, konnte auf Dauer nicht gut gehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es an seine Grenzen stieß. Und so wundert es nicht, dass dem ostdeutschen Staat schon seit Mitte der siebziger Jahre das Wasser bis zum Hals stand. Und das in vielerlei Hinsicht. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung war groß und ließ sich oft nur mit Gewalt unterdrücken. Auch wirtschaftlich war die DDR zu diesem Zeitpunkt längst abgehängt, bewegte sich auf dem Niveau eines Schwellenlandes und  stand zudem im Schatten des großen Bruders, der Sowjetunion, die Öl und Gas irgendwann nur noch gegen harte Devisen lieferte. Unterdrückungsmaßnahmen gegen alle, die sich anders kleideten, anders sprachen oder einfach nur anders dachten, gehörten in der DDR zum Alltag. Doch  im Grunde war der Staat hilflos, kaschierte damit nur die morbiden Zustände in seinem Innern, die am Ende immer drastischer zutage traten. Noch bis zum Februar 1989 fielen an der Berliner Mauer Schüsse, die aus Kalaschnikows ostdeutscher Grenzer stammten.

Doch oft duldete der Staat Initiativen wie in Ost-Berlin allein aus Angst vor Negativschlagzeilen in der Westpresse, die sich gerne auf alles, was nur in Ansätzen nach Querdenkertum roch, stürzte, indem sie darin Keimlinge einer allmählichen „Öffnung“ erblickte. „In dem Kinderladen steckte viel Arbeit drin“, erinnert sich Ulrike Poppe, die heute Opfer des SED-Unrechts in Entschädigungsfragen berät. In Eigenarbeit hatten Eltern Kindermöbel gezimmert, die Wände bunt angemalt und über Freunde aus dem Westen Holzspielzeug und Plüschtiere organisiert.

Vor 1989 gehörte Ulrike Poppe, deren Ex-Mann Gerd Poppe in den Wendemonaten Minister in der Regierung Modrow war, zum engeren Kreis oppositioneller DDR-Bürger, die für politische Veränderungen eintraten; vor allem, weil es dafür mit der KSZE-Schlussakte erstmals eine verbindliche, völkerrechtliche Grundlage gab.

Weichenstellung für 1989

Die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki, mit der im August 1975 die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit endete, half der SED, durch Handelsabkommen kurzfristig der wachsenden Auslandsverschuldung zu begegnen. Das Staatentreffen in der finnischen Hauptstadt hatte 1973 auf neutralem Boden begonnen und sollte der „Annäherung“ zwischen beiden Blöcken dienen, wobei die Verhandlungspartner höchst unterschiedliche Verhandlungsziele verfolgten. Dem Osten ging es um Investitionen, derweil der Westen auf politische Veränderungen drängte. Im Grunde war die KSZE ein großer Deal, mit der der Westen langfristig auf eine Demokratisierung des Ostens hinarbeitete, indem er die Wirtschaftsbeziehungen intensivierte. Und sich im Gegenzug die kommunistischen Staaten, darunter die DDR, zur Wahrung der Menschenrechte verpflichteten; einen Umstand, den die Machthaber in Ost-Berlin und Prag zunächst nicht sonderlich ernst genommen haben. Und womit sie sich fünfzehn Jahre später, als die Menschen in Leipzig, Berlin und Bukarest massenweise auf die Straße gingen, ihr eigenes Grab schaufelten.

Naivität der SED

Den Passus über die Menschenrechte in den Dokumenten von Helsinki hatten mutige Bürger schon bald zum Anlass genommen, auf die diktatorischen Verhältnisse in ihren Ländern hinzuweisen. Die SED hatte sich erstaunlich offenherzig, fast schon naiv gezeigt, als sie den vollen Vertragstext in ihrem Parteiorgan „Neues Deutschland“ abdrucken ließ, so dass sich fortan jeder Bürger darauf berufen konnte. Und nicht nur sie. In vielen Ostblockstaaten entstanden im zeitlichen Umfeld der KSZE Dissidentengruppen, die sich kritisch mit den politischen Zuständen in ihren Ländern auseinander setzten; so in der Tschechoslowakei die Charta`77 um den Dichter und späteren Staatspräsidenten Vaclav Havel, in Polen um den Gewerkschaftsführer Lech Walesa und in der Sowjetunion um den Physiker Andrej Sacharow. Im Umfeld der Universität Jena engagierte sich zu Beginn der achtziger Jahre eine Gruppe um den Dichter Lutz Rathenow, der heute sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen ist, für mehr Freiheit im SED-Sozialismus.
Die SED sah diese Entwicklung mit Unbehagen und setzte weiter auf ihr „Schild und Schwert“, die Staatssicherheit, wie nach der Wende gefundene Verwaltungsvorgänge belegen. Die Schlussakte von Helsinki enthielt mehr Sprengstoff, als sich die Machthaber in Ost-Berlin ursprünglich ausgemalt hatten. Und das, obwohl die SED ihren Machtverlust immer vor Augen gehabt und sich seit ihrer Gründung 1946 in einer Art Wagenburgmentalität befunden hatte, immer darauf bedacht, sich durch ideologische Verrenkungen, die selbst bei Genossen auf Skepsis stießen, nach außen hin abzuschotten.

Konspirative Zersetzungsmaßnahmen

Für die Staatssicherheit war die Schlussakte von Helsinki kein bloßes völkerrechtliches Papier, von dem es schließlich viele gab, sondern eine „politisch-operative“ Herausforderung im Umgang mit der Opposition im eigenen Land. Schon im Vorfeld der Schlussakte hatte sich die Staatssicherheit Gedanken darüber gemacht, wie zukünftig mit Regimegegnern, vor allem aus dem Umfeld der Kirchen, umzugehen sei. Das Ergebnis ihrer Überlegungen war die Richtlinie 1/76, die neben Minister Erich Mielke nur wenigen Eingeweihten in seinem Ministerium bekannt war und die heute als originale Drucksache die Vitrinen zeitgeschichtlicher Ausstellungen zur DDR ziert. „Die Richtlinie 1/76 war ein Leitfaden, mit dem die Stasi-Generalität ihre Mitarbeiter instruierte, mit subtilen Methoden auf das wachsende Aufbegehren im Land zu reagieren“, sagt der Politologe Klaus Schroeder von der Freien Universität Berlin. Künftig sollte die Staatssicherheit Andersdenkende nicht mehr prügelnd in Schach halten, wie sie es noch in den fünfziger und sechziger Jahren getan hatte, sondern mit feineren, versteckten Mitteln dafür sorgen, dass die kritisch denkenden Bürger gar nicht erst auf die Idee kamen, gegen die DDR gerichtete Handlungen zu begehen. Das Prinzip nannte sich „Zersetzung“, bei dem die Richtlinie 1/76 in allen Einzelheiten festlegte, wie oppositionell gesinnte Bürger mit Maßnahmen traktiert werden sollten, ohne dass jemand die Staatssicherheit dahinter vermutete. Im Vorfeld operativer Zersetzungsmaßnahmen ging es immer darum, möglichst viele Informationen über einen Menschen zusammenzutragen, seine Stärken und Schwächen herauszufinden, um sie mit diesem Wissen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ziel einer Zersetzungsmaßnahme war immer, das Selbstvertrauen der Betroffenen zu zerstören. Das Ministerium für Staatssicherheit wollte Panik, Angst und Verwirrung erzeugen, seinen Zielpersonen Liebe und Geborgenheit von Freunden und Familie entziehen, Enttäuschung und Unzufriedenheit provozieren oder eine öffentliche Stigmatisierung erreichen.
Bei Ulrike Poppe war die Staatssicherheit zunächst nur plump-dreist vorgegangen, indem sie ihr, getarnt als dummer Jungenstreich, regelmäßig die Fahrradreifen zerschnitt. Poppe sollte gar nicht erst auf den Gedanken kommen, so das kindische Kalkül der Stasi, sich mit alternativen Lebensentwürfen, gar mit eigenen Formen der Kindererziehung in der DDR zu beschäftigen; stattdessen sollten ärgerliche Petitessen wie ein kaputtes Fahrrad den Alltag der jungen Mutter bestimmen. Markus Meckel, Pfarrer und späterer DDR-Außenminister, erhielt in den achtziger Jahren regelmäßig Liebespostkarten einer „Mausi“, die die Staatssicherheit fingiert hatte, um Zwietracht in seiner Ehe zu säen.

Die Konstanten eines menschlichen Lebens wollte die Staatssicherheit so schrittweise zerstören. Dabei ging sie höchst professionell und vor allem systematisch vor, indem die Richtlinie 1/76 auch Gegenstand eines breit gefächerten Aus- und Fortbildungsprogramms wurde und dabei der Begriff der „Operativen Psychologie“ entstanden ist. Die Psychologie, deren Aufgabe eigentlich die Heilung des Menschen von seelischen Erkrankungen ist, wurde von der DDR-Staatssicherheit somit als Kampfmittel eingesetzt, um politische Gegner in Schach zu halten. Bis heute diskutieren Historiker und Psychotherapeuten die Frage, welche Langzeitschäden diese Methoden angerichtet haben und ob sie den Untergang der SED-Diktatur auf Dauer hätten verhindern können. Dabei sind jedoch große Zweifel angebracht. Denn letztendlich hat die DDR mit der Richtlinie 1/76 nur ihre Unfähigkeit bewiesen, auf berechtigte Anliegen ihrer Bürger angemessene Antworten zu finden. Bis die Bevölkerung ihr Schicksal in die eigenen Händen nahm, und die DDR am 3. Oktober 1990 Geschichte war.

Veröffentlicht von on Apr 6th, 2015 und gespeichert unter DRUM HERUM, RECHT HISTORISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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