Altmeister Achim Reichel auf seinem Album „Raureif“
Thomas Claer
Eigentlich hatte ja endgültig Schluss sein sollen nach fünf Jahren „Solo mit euch“- Tournee, Achim Reichels kurzweiligem Rückblick auf ein bewegtes halbes Bühnenjahrhundert. Aber irgendwie hat es den auch mit 71 noch jungenhaft wirkenden Rock-Veteran wohl noch einmal gejuckt. Und so präsentiert er uns nach 16 Jahren Unterbrechung, die er u.a. mit Balladen-Vertonungen und Volkslied-Adaptionen zubrachte, tatsächlich noch einmal eine richtige Pop-Platte. Sie klingt, das lässt sich schon nach wenigen Takten sagen, nicht unbedingt überraschend, sondern vielmehr altvertraut. Die meisten der Stücke erinnern mehr oder weniger deutlich an frühere Kompositionen des Hamburgers, wobei die Arrangements diesmal fast durchweg recht stimmig geworden sind. Der Auftaktsong „Dolles Ding“ lässt einen unvermeidlich an „Die Schlange und das Paradies“ von 1986 denken, doch kommt hier noch der sehr pointierte Bläsereinsatz hinzu, welcher dem Lied einen durchaus besonderen Drive gibt. „In der Hängematte“ ist hingegen ein angenehm entspannter Bluesrock-Song, dem man allenfalls die aus dem Munde eines über Siebzigjährigen vielleicht ein wenig gewagt wirkende Textpassage „Nimm mich! Ich will dich! Deinen Hunger still ich!“ vorhalten könnte. Die restlichen Lieder des Albums sind von schwankender Qualität, doch knüpft Reichel von der luftigen Instrumentierung her sogar an seine stärkste Phase in den mittleren und späten Siebzigern an.
Besonderes Augenmerk verdient allerdings die inhaltliche Seite, denn erkennbar nutzt Achim Reichel sein Alterswerk auch zur Behandlung grundsätzlicher Themen, mit denen er in seinem langen Leben womöglich noch nicht ganz fertig geworden ist. Zum Beispiel ist da diese Geschichte, die er, wie es im Booklet der CD ausdrücklich heißt, selbst irgendwann in den Achtzigern so erlebt und nun im Lied „Dolles Ding“ verarbeitet hat: Das lyrische Ich fährt mit dem Auto in tiefster Nacht an eine einsame Straßenkreuzung auf dem Lande. Die Ampel steht auf rot, es ist weit und breit niemand zu sehen. „Da bin ich ohne Not“, so heißt es im Song, „rüber bei Rot“. Und es kommt, wie es kommen muss: Die Polizei, die plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht ist, verhängt ein Bußgeld. Das empörte lyrische Ich legt dagegen Einspruch ein und verliert später vor Gericht mit Pauken und Trompeten.
Rechtlich ist der Fall natürlich klar: Der Verwaltungsakt „Rote Ampel“, auch wenn er in der konkreten Situation unsinnig sein mag, gilt dennoch, solange er nicht nichtig ist. Und nichtig ist er nur, wenn ihm seine Fehlerhaftigkeit „auf der Stirn geschrieben steht“, was wohl nur bei einer defekten dauerhaft rot leuchtenden Ampel anzunehmen wäre. Rechtsphilosophisch betrachtet kommt hier ferner die berühmte „Radbruchsche Formel“ ins Spiel, wonach grundsätzlich die Rechtssicherheit stärker wiegt als die Einzelfallgerechtigkeit, abgesehen von Fällen „unerträglichen Unrechts“. Um aber ein solches anzunehmen, braucht es schon Nazi-Gräueltaten oder Schießbefehle an der Mauer. Kurz, rote Ampeln in tiefer Nacht an einsamen Kreuzungen sind weder nichtig noch unerträgliches Unrecht und deshalb trotz allem zu beachten. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass in Berliner Szenevierteln das Überqueren der Straße bei roten Ampeln zumindest durch Fußgänger gemeinhin als Kavaliersdelikt angesehen und sogar gewohnheitsrechtlich polizeilich toleriert wird. Das tut die Berliner „Polente“ gewissermaßen ohne Anerkennung einer Rechtspflicht… Weil aber Achim Reichel sein jahrzehntelanger Ärger über dieses Missgeschick auch irgendwie sympathisch macht und er ohnehin ein dufter Typ ist, lautet das Gesamturteil hier: voll befriedigend (10 Punkte).
Achim Reichel
Raureif
Tangram (Indigo) 2015
ASIN: B00OVG45ZU
Hallo, Herr Reichel,
Zwei mal musste ich mir unfreiwillig anhören „bei rot rüber auch ohne not“. Das ist ein richtiger geistiger Dünnschiss.
Gesanglich und instrumental niveaulos.
Erstaunlich, dass es Radiosender gibt, die das den Zuhörern zumuten – wie Antenne Brandenburg. Das hat mich veranlasst, andere Sender zu bevorzugen.
Beste Grüße, R. Werner