DDR-Stasi-Offiziere beanspruchen den Rechtsstaat
André Gursky
Seit Mitte der 90er Jahre wird im mitteldeutschen Halle a.d. Saale eine Gedenkstätte aufgebaut, die an die politischen Opfer von zwei Diktaturen auf deutschem Boden erinnert. Die Haftanstalt „Roter Ochse“ wurde bereits 1842 eröffnet, deren nachvollziehbare außer-gewöhnli
che Justizgeschichte weist über den regionalen Bezugsrahmen bei weitem hinaus. Politisch motivierte Urteile sind seit der Revolution 1848/49 über einen Zeitraum von 140 Jahren recherchierbar.
In der von Nationalsozialisten eingebauten Hinrichtungsstätte starben zwischen 1942 und 1945 über 500 Menschen aus 15 Nationen unter dem Fallbeil. Das Gebäude, in der zweiten Hälfte des 19. Jh. als Lazarett errichtet, wurde in den 50er Jahren komplett umgebaut. Gemeinsam standen die Tschekisten Sowjetrusslands und des halbierten deutschen Teilstaates im „Kampf gegen den Klassenfeind“. Tausende tatsächliche und vermeintliche Gegner des proklamierten Aufbaus des Sozialismus ließen sie hinter den Zuchthausmauern des berüchtigten „Roten Ochsen“ verschwinden. Für viele Häftlinge war die Verbringung in die Haftanstalt eine Einweisung ohne Wiederkehr.
Ein Teil des „Roten Ochsen“ diente der Abteilung IX der MfS-Bezirksverwaltung Halle bis 1989 als Wirtschaft- und Verhörgebäude. Der Umgang des DDR-Geheimdienstes mit den Hinterlassenschaften des NS-Todeskomplexes widersprach von Anfang an dem staatlich verordneten antifaschistischen Traditionsverständnis, dem sich auch die Untersuchungsorgane verpflichtet sahen. Im einstigen Hinrichtungskomplex entstanden u.a. eine Wäscherei und eine Küche für die Häftlingsversorgung, aus der bis 1989 warme und kalte Speisen gereicht wurden; weitere Strafgefangenenarbeitskommandos: Schlosserei, Schusterei und Tischlerei. In den oberen Etagen waren die Untersuchungshäftlinge ihren geheimdienstlichen Peinigern in Tages- und Nachtverhören einem reichhaltigen Arsenal von teils brutalen, teils subtilen Verhörmethoden ausgesetzt.
Es galt nicht die Unschuldsvermutung, sondern die Gefangenen waren als „feindlich-negative Elemente“ zu zersetzen, sie waren auf den vom MfS präjudizierten Verhandlungsmarathon vorzubereiten – wenn nötig um den Preis der Zerstörung der individuellen Würde und Persön-lichkeit des Anzuklagenden.
Waren es in den ersten Jahren zahlreiche Spionageprozesse, die das MfS konstruierte, Schau-prozesse nach stalinistischem Vorbild, der Kampf gegen „Staatsfeinde“ oder der so genannte Kirchenkampf, änderten sich in den 70er und 80er Jahren die Anklageschriften sowohl qualitativ als auch hinsichtlich der sie bestimmenden Motivationen: Menschenrechtsfragen, Umweltfragen und Friedensfragen oder das breite Spektrum von „Republikflucht“ standen nach Helsinki 1975 zunehmend im Mittelpunkt der operativen Arbeit der Untersuchungs-führer des MfS.
Zu deren Biografien wurde in Vorbereitung der Neueröffnung der Gedenkstätte (2006) verstärkt geforscht. Eine einfache Aufgabe ist das bis heute nicht, müssen doch die zu recherchierenden Namen von MfS-Offizieren in der Stasi-Unterlagenbehörde vom Antragsteller im Vorfeld selbst genannt werden. Erst auf dieser Grundlage erfolgen eine behördliche Prüfung und die Herausgabe der entsprechenden Personalakten. Zunächst muss also der Antragsteller bereits vor der Recherche genau wissen, wer überhaupt als Untersuchungsführer im „Roten Ochsen“ zwischen 1950 und 1989 seinen Dienst versah.
In Halle bestanden für ein solches Recherchevorhaben günstige Voraussetzungen, hatte doch die BILD-Zeitung fortlaufend so genannte Stasi-Listen mit hunderten von Namen ehemaliger Mitarbeiter der MfS-Bezirksverwaltung Halle Anfang der 90er Jahre öffentlich gemacht.
Des Weiteren oblag die rechtliche Prüfung der Birthler-Behörde, nämlich auf Grundlage des Stasi-Unterlagengesetzes über die zweckgebundene Herausgabe der beantragten Unterlagen zu entscheiden.
2007 konnten schließlich eine Reihe von Strukturdaten von über 50 MfS-Untersuchungsführern aus der Haftanstalt „Roter Ochse“ zusammengetragen werden. Darüber hinaus lagen komplette Diplomarbeiten der an der Juristischen Hochschule des MfS ausgebildeten Untersuchungsführer vor, die zusammen mit den Strukturdaten heute Bestandteil der Gedenkstättendokumentation sind. Ein Umstand, der den früheren Verantwortlichen der Haftanstalt unzumutbar erscheint. Über verschiedene Medien und das Internet machten Einzelne von ihnen Front gegen eine, wie es heißt, nicht zu akzeptierende Erinnerungs- und Gedenkkultur im „Roten Ochsen“. Doch werden nicht nur solche Möglichkeiten des einstigen „Klassenfeindes“, wie Rede- oder Pressefreiheit ausgeschöpft, sondern auch rechtliche Prüfungen beauftragt. Schließlich erreichte den Landesdatenschutzbeauftragten von Sachsen-Anhalt eine Reihe von Eingaben zum Schutze der Persönlichkeitsrechte mit dem Ziel, die Ausstellungsdokumentation mit Nennung von klaren Verantwortlichkeiten zu verbieten. Nach einer längeren Prüfungszeit erfolgte das Votum der Datenschützer gegen die Beschwerde führenden einstigen MfS-Offiziere.
Der datenschutzrechtliche Befund ist richtungweisend und grundlegend für den Fortgang der Gedenk- und Erinnerungskultur in Deutschland. Er bildet einen wesentlichen rechtlichen Akzent in dem überregionalen Kampf um die Deutungshoheit der Geschichte in der Bundesrepublik Deutschland.
Der Autor ist Leiter der Gedenkstätte „Roter Ochse“ in Halle (Saale).
Weiterführend zum Thema: Gursky, A.: Einschränkung der Persönlichkeitsrechte? Die Offensive einstiger Stasi-Offiziere gegen die Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle (Saale), in: Gerbergasse 18. Thüringer Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte und Politik, hg. von der Geschichtswerkstatt Jena e.V., Heft 2 (2008), S. 11-13, Gursky, A.: Erinnerungskultur konkret. Ein Erfahrungsbericht, in: Deutschland Archiv, Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, hg. vom W. Bertelsmann Verlag im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 1 (2009), S. 5-10.