Manche Ameisen sind gar nicht fleißig, haben Wissenschaftler herausgefunden. Was sagt uns das?
Thomas Claer
Wer hätte das gedacht? Die sprichwörtlich so fleißigen Ameisen sind manchmal regelrecht faul, zumindest einige von ihnen. Drei Wochen lang beobachteten zwei Entomologen (d.h. Insektenforscher) der Universität Arizona das Verhalten von 250 Ameisen in fünf verschiedenen Kolonien. Um die Individuen zu unterscheiden, wurden die einzelnen Tiere markiert und mit speziellen Kameras beobachtet. Das Ergebnis der Untersuchung: 2,6 Prozent der so markierten Individuen erwiesen sich als wahre Workaholics, sie schufteten nahezu pausenlos. Weitere 72,6 Prozent waren etwa zur Hälfte des Beobachtungszeitraums beschäftigt, in der anderen Hälfte der Zeit ruhten sie sich aus. Die restlichen knapp 25 Prozent hingegen hockten einfach nur herum, ohne einer irgendwie zielgerichteten Tätigkeit nachzugehen. Eine Erklärung für das bemerkenswerte Verhalten der Ameisen konnten die Forscher bislang noch nicht finden. Weder handelte es sich bei den Müßiggängern um besonders junge, alte oder kranke Tiere noch bestätigte sich die anfängliche Vermutung der Wissenschaftler, dass die Arbeitsscheuen für die Tätigen Nahrung bereithielten. Auch bei ähnlichen früheren Untersuchen von Bienenstöcken, Wespennestern und Termitenhügeln ergab sich, dass bis zur Hälfte der beobachteten Individuen anscheinend ohne besonderen Grund dauerhaft inaktiv blieben.
Aha, werden sich nun viele denken. In der Natur geht es also ähnlich zu wie bei uns Menschen. Einige reißen sich den Hintern auf, während andere einfach nur so herumhängen. Die meisten aber, das muss man ausdrücklich betonen, zumindest ist es offenbar bei fast drei Vierteln der Ameisen so, haben ihre Work-Life-Balance gefunden bzw. machen Dienst nach Vorschrift. Nun ist es natürlich immer etwas heikel, aus Naturbeobachtungen irgendwelche Schlüsse auf die menschliche Gesellschaft zu ziehen. Rechtsphilosophen sprechen hier vom „naturalistischen Fehlschluss“ vom Sein auf das Sollen oder gleich vom drohenden Sozialdarwinismus. Und doch sind einige Parallelen einfach zu offensichtlich, um ihren Erkenntniswert ignorieren zu können.
Zunächst einmal sind über 70 Prozent Arbeitende in einer Population schon eine ganze Menge. So ist gegenwärtig in Deutschland nur gut die Hälfte der menschlichen Bevölkerung berufstätig (wobei aber noch zusätzlich die unbezahlte Haus- und Familienarbeit berücksichtigt werden muss), in früheren Zeiten waren es jedoch auch schon mal deutlich mehr, zuletzt beispielsweise in der DDR. In anderen Teilen der Welt liegt der Anteil der Arbeitenden an der Gesamtbevölkerung mitunter ebenfalls signifikant höher – mancherorts (v.a. in wirtschaftlich weniger entwickelten Regionen) aber auch viel niedriger. Könnte sich aus dem beobachteten Beschäftigungsgrad der staatenbildenden Insekten also vielleicht eine Art diesbezüglicher staatsorganisatorischer Optimalzustand ableiten lassen, nicht in ethisch-moralischer oder gar gerechtigkeitstechnischer Hinsicht, versteht sich, sondern unter rein ökonomischen Gesichtspunkten wie Effektivität oder Effizienz? Schließlich haben sich die Insektenstaaten evolutionär bewährt, andernfalls gäbe es sie heute ja gar nicht mehr, während in menschlichen Gesellschaften immerhin auch zivilisatorische, eben humane Faktoren eine Rolle spielen, die sich – glücklicherweise – nicht nur am Erfolg, d.h. an der bloßen Bestandssicherung ausrichten, sondern auch an sozialen Motiven. Demnach sollte in den – allein der natürlichen Selektion unterworfenen – Insektenstaaten eine Beschäftigungsquote nahe am evolutionären Optimum bestehen, was eigentlich eine nur geringe Zahl an Müßiggängern erwarten ließe, denn es wäre doch eine immense Ressourcenverschwendung, auf die Arbeitskraft so vieler Individuen zu verzichten. Doch warum liegt dann der Anteil der Untätigen hier zwischen einem Viertel und der Hälfte der Population? Womöglich tendiert ja in staatlichen Gebilden aller Art stets ein relevanter Teil an widerspenstigen Individualisten dazu, sich nicht vollständig in alle Abläufe einbinden zu lassen. Ihr evolutionärer Nutzen könnte darin bestehen, sich in Umbruchzeiten als von allem Althergebrachten unbelastete kreative Erneuerer anzubieten, die eigentlich immer schon irgendwie dagegen gewesen sind. Und vielleicht ist es für eine komplexe Arbeitsgesellschaft tatsächlich effektiver, diese Unangepassten einfach links liegen zu lassen, statt sie mit großem Aufwand zur Mitarbeit zu zwingen. Möglicherweise ist ja aus solchen populationsstrukturellen Gründen gerade eine Beschäftigungsquote von 50 bis 75 Prozent das besagte Optimum für eine Gesellschaft, damit sie langfristig überlebensfähig ist. Und wenn dann noch zwei bis drei Prozent Highpotentials hinzukommen, die pausenlos arbeiten und niemals müde werden, dann kann eigentlich nicht mehr viel schiefgehen…