Band 5 der „Recherche“ von Marcel Proust, „Die Gefangene“, widmet sich den Tücken der Zweisamkeit
Thomas Claer
Als ausdauernder Leser der “Suche nach der verlorenen Zeit” von Marcel Proust konnte man sich nach dem vierten der sieben Bände, „Sodom und Gomorra“, schon einmal die Frage stellen, wie es handlungstechnisch nun eigentlich noch über drei volle Bände weitergehen sollte. Klar, im siebten und letzten Band, der „Wiedergefundenen Zeit“, werden sich alle Kreise schließen, doch wie würden sich wohl Band 5 und 6 entwickeln, wo doch die Heirat zwischen Marcel und Albertine am Ende von Band 4 bereits ausgemachte Sache ist? Schließlich heißt es bei Kurt Tucholsky ganz treffend: „Es wird nach einem happy end/ Im Film jewöhnlich abjeblendt“. Soll nun etwa, so fragt man sich ein wenig irritiert, abweichend von dieser Regel ausgerechnet das Eheleben der beiden Protagonisten vor dem Leser ausgebreitet werden, obgleich doch schon ebenjener Tucholsky erkannte: „Die Ehe ist zum jrößten Teile/ Vabrühte Milch und Langeweile“?
Nein, soweit darf es bei Proust natürlich nicht kommen. Die Handlung in „Die Gefangene“ setzt erst einige Jahre nach Marcels Entschluss, Albertine zu heiraten, in Paris wieder ein. Die beiden leben schon seit längerem in Marcels Elternhaus zusammen, allerdings ohne dass sie verheiratet wären. Marcel hält Albertine gewissermaßen hin. Sie ist jetzt etwa Mitte, er vielleicht schon Ende zwanzig. Albertine ist offensichtlich sehr an einer Heirat mit Marcel interessiert, schließlich ist er für sie eine glänzende Partie, doch spricht sie dies wohlweislich niemals aus, um ihre Ambitionen nicht zu gefährden. Vielleicht macht sie sich aber auch schlicht keine großen Gedanken darüber, der Leser erfährt im Wesentlichen nur Marcels Sicht auf die Dinge. Dessen ohnehin für die damalige Zeit – die Handlung spielt im frühen 20. Jh. – bemerkenswert lockeren großbürgerlichen Eltern lassen ihn auch in dieser Frage völlig frei gewähren. Zumal sie, was dem jungen Paar entgegenkommt, zur Zeit der Romanhandlung gerade abwesend sind. Marcels Mutter kümmert sich um die nach dem Tod von Marcels Großmutter allein auf sich gestellte kränkliche Tante in Combray. Marcels Vater, der – im krassen Gegensatz zu seinem Sohn! – pausenlos arbeitet, tritt überhaupt nicht in Erscheinung.
Das schöne Leben zu zweit
So gestaltet sich das Leben der jungen Leute überaus angenehm. Einer „geregelten Tätigkeit“ im eigentlichen Sinne gehen beide nicht nach. Für Albertine ist dies ohnehin nicht vorgesehen, Marcel verfolgt weiter den vagen Wunsch, Schriftsteller zu werden. Zwischenzeitlich hat er immerhin schon „einige Blätter“ geschrieben, und zwar eine Erzählung über den mittlerweile verstorbenen Swann und die Unmöglichkeit seines Verzichts auf Odette. Auch im Haushalt ist für die beiden nichts zu tun, da die Dienerin Francoise alle anfallenden Arbeiten verrichtet. Und außerdem räumt Francoise stets auf, was insbesondere Albertine an Unordnung produziert. Marcel kommentiert das mit den Worten: „Ich glaube, dass Albertine Mama unerträglich gewesen wäre, da diese … Gewohnheiten der Ordnung bewahrt hatte, von denen meiner Freundin die elementarsten Grundbegriffe fehlten.“ Für Ausfahrten steht ein Automobil mit Chauffeur zur Verfügung. Selbstverständlich bestehen finanziell keinerlei Beschränkungen. Nur einmal seufzt Marcels Mutter beiläufig in einem ihrer Briefe an ihn: „Wo geht nur das ganze Geld bei dir hin?“
Die Wohnsituation für die jungen Herrschaften in der Stadtvilla von Marcels Eltern kann als äußerst komfortabel bezeichnet werden. Jeder hat sein eigenes Zimmer mit eigenem Bad und eigener Ankleide. Besonders großen Wert legt Marcel allerdings darauf, dass man ihn morgens immer ausschlafen lässt. Niemand, weder Albertine noch die Dienerin, darf ihn wecken, bevor er selbst das Glöckchen nach der Hausangestellten geläutet hat. (Ja, das tägliche Ausschlafenkönnen ist in der Tat so ziemlich der größte Luxus, den ein Mensch sich leisten kann. Vom eingangs erwähnten Kurt Tucholsky stammt der schöne Ausspruch: „Das Stigma aller Unterdrückten: früh aufstehen müssen.“) Überhaupt ist Marcel, was das Schlafen angeht (wie auch sonst), ein Genießer: „Der Schlaf ist göttlich, aber wenig dauerhaft; beim leisesten Anstoß verflüchtigt er sich. … Wie in der Musik bestimmte bei diesen verschiedenen Arten von Schlaf die Erhöhung oder Verminderung eines Intervalls die Schönheit.“ Und wenn Marcel nicht schläft, bleibt er auch gerne, besonders bei schönem Wetter, stundenlang im Bett liegen, ist dann für niemanden zu sprechen und durchlebt „Erinnerungsräusche“: „An diesem heiteren Sonnentag von morgens bis abends mit geschlossenen Augen liegenzubleiben, war eine ebenso erlaubte, gebräuchliche, heilsame, angenehme, der Jahreszeit entsprechende Sache, wie die Fensterläden gegen Hitze geschlossen zu halten. … Indem ich träge von Tag zu Tag weiterschiffte wie auf einem Kahn und vor mir immer neue verzauberte Erinnerungen auftauchen sah, die ich nicht selbst auswählte, sondern die, im Augenblick zuvor noch unsichtbar, mir von meinem Gedächtnis nacheinander angeboten wurden, ohne dass ich sie mir etwa aussuchen konnte, setzte ich träge in diesen immer gleichen Räumen meine Spazierfahrt in der Sonne fort.“
Nun kann man Marcels Gewohnheiten für dekadent halten, doch „der Snobismus ist zwar eine ernste Krankheit der Seele, aber örtlich begrenzt und nicht dazu angetan, sie ganz und gar zu zerstören.“ Glücklicherweise nimmt Albertine ihrem Freund solche Eskapaden jedenfalls zunächst nicht krumm, denn immerhin beschäftigt er sich „doch unaufhörlich damit, wie sie ihre Zeit verbrachte“. Und – was nicht zu unterschätzen ist – Marcel tankt Kraft durch sein langes Schlafen: „Da unser Wohlbefinden sehr viel weniger aus unserem guten Gesundheitszustand als aus dem ungenutzten Überschuss unserer Kräfte resultiert, können wir ebensogut wie durch Vermehrung der letzteren durch Beschränkung unserer Aktivität dazu gelangen. Diejenige, von der ich überströmte und deren Potential ich im Bett liegend intakt hielt, machte mich springlebendig im Innern, so wie eine Maschine, die sich nicht vom Platz rühren kann, in sich selber schnurrt.“
Wusste man in Balbec noch nichts Genaues über das Ausmaß der körperlichen Annäherung zwischen Marcel und Albertine, so besteht darüber mittlerweile kein Zweifel mehr: Marcel erfüllt „die Pflichten eines blühenden und schmerzlichen Kultes, der der Jugend und Schönheit der Frau wie eine Opfergabe dargebracht wurde.“ Sehr explizit heißt es über Albertine: „Ihre beiden kleinen hochsitzenden Brüste waren so rund, dass sie weniger einen integrierenden Teil ihres Körpers zu bilden als vielmehr wie zwei Früchte daran gereift zu sein schienen; und ihr Leib, bei dem die Stelle verborgen war, an der es beim Manne hässlich wird, als sei ein Haken steckengeblieben in einer Statue, von der man den Mantel abgeschlagen hat, fügte sich da, wo die Schenkel zusammentreffen, mit zwei muschelartigen Wölbungen zu einer sanften, ruhevollen, abschließenden Linie gleich der des Horizonts, wenn die Sonne untergegangen ist.“
Besonders lustvoll gestaltet sich der Liebesakt für Marcel jedoch, wenn er sich ergänzend dazu vor seinem inneren Auge noch einmal den Strand von Balbec vorstellt: „Hinter diesem jungen Mädchen spielten wie hinter dem purpurfarbenen Licht, das aus meinen Fenstervorhängen in Balbec niederfiel, während draußen das Konzert der Musikanten aufklang, in perlmutfarbenen Tönen die bläulichen Wellenlinien des Meeres.“ Und hinsichtlich Albertines und ihrer Freundinnen befindet er: „Sie waren … erblühte junge Mädchen geworden, aus deren Schar ich die schönste Rose gepflückt und allen anderen fortgenommen hatte.“
Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf
Nun entdeckt Marcel aber neben seiner Meeres-Obsession noch einen weiteren „Fetisch“ an sich: „Ich habe bezaubernde Abende im Geplauder, im Spiel mit Albertine verbracht, aber niemals so süße, wie wenn ich sie schlafen sah. … Der Länge nach auf meinem Bett ausgestreckt, in einer Haltung von einer Natürlichkeit, die man nicht hätte erfinden können, fand ich sie einer langgestielten Blüte ähnlich, die man dorthin gelegt hatte; und so war es in der Tat: die Macht zu träumen, die ich nur in ihrer Abwesenheit besaß, fand ich in jenen Augenblicken auch in ihrer Nähe wieder, als sei sie eben im Schlaf zu einer Pflanze geworden. Dadurch verwirklichte ihr Schlummer in gewissem Maße, was die Liebe als Möglichkeit enthielt. Wenn ich allein war, konnte ich an sie denken, aber sie fehlte mir, ich besaß sie nicht; wenn sie da war, sprach ich zu ihr, aber war zu fern von mir selbst, um zugleich denken zu können. Wenn sie schlief, brauchte ich nicht mehr zu sprechen, ich wusste, dass ihr Blick nicht länger auf mir ruhte, ich hatte nicht mehr nötig, an meiner eigenen Oberfläche zu leben.“
Über mehrere engbedruckte Seiten wird ausschließlich die schlafende Albertine beschrieben: „Ihr Schlaf, an dessen Gestade ich mit immer neuer Lust träumte, so dass ich nicht müde wurde, sie immer wieder zu kosten, war eine ganze Landschaft für mich. Ihr Schlaf rückte etwas so Ruhevolles, so sinnlich Köstliches dicht an meine Seite wie etwa die Vollmondnächte in der Bucht von Balbec. … Ich hörte das Geräusch ihrer Atemzüge, die in kurzen Abständen über ihre Lippen kamen, regelmäßig wie Brandungswellen, aber sanfter und leiser. In dem Augenblick jedoch, da mein Ohr diesen göttlichen Laut in sich aufnahm, schien mir in ihm die gesamte Persönlichkeit, das ganze Leben der reizvollen Gefangenen, die dort vor meinen Augen ausgestreckt lag, verdichtet enthalten zu sein. … Ihre Brauen, die so geschwungen waren, wie ich es niemals gesehen hatte, umgaben die Wölbung der Augenlider wie ein weiches Seevogelnest … Ihre nach und nach immer tiefere Atmung hob regelmäßig ihre Brust und darüber auch noch ihre gekreuzten Hände, ihre Perlen, die auf so verschiedene Art bei der gleichen Bewegung ihren Platz verschoben wie Fischerboote und Ankerketten, die eine Bewegung der Wellen zu leisem Schaukeln bringt. Dann, wenn ich spürte, dass ihr Schlaf seinen Höhepunkt erreicht hatte, dass ich mich nicht mehr an Klippen des Bewusstsein stoßen würde, die jetzt von der hohen Flut des Tiefschlafs überdeckt waren, sprang ich entschlossen lautlos auf das Bett, ich streckte mich neben ihr aus, umfasste sie mit meinen Armen, drückte die Lippen auf ihre Wangen und ihr Herz und legte dann auf alle Teile ihres Körpers meine freigebliebene Hand, die nun auch wie die Perlen vom Atem meiner Freundin leicht emporgehoben wurde; ja ich selbst wurde von ihrer rhythmischen Bewegung leise auf und nieder gewiegt: ich hatte mich auf dem Schlummer Albertines eingeschifft. … Das stärker werdende Geräusch ihres Atems konnte die Illusion erzeugen, sie keuche vor Lust, doch als die meine auf dem Höhepunkt war, konnte ich sie umarmen, ohne ihren Schlaf unterbrochen zu haben. … Ich genoss ihren Schlummer in selbstloser und beschwichtigender Liebe, so wie ich Stunden hindurch dem leisen Wellenschlag der Brandung lauschen konnte. … Diesem Vergnügen aber, ihrem Schlaf zuzuschauen, das ebenso süß war, wie ihr Leben nahe bei mir zu spüren, bereitete ein anderes ein Ende, nämlich das, sie erwachen zu sehen.“ Doch schließt diese Schlaf-Orgie mit dem beunruhigenden Satz: „Süße heitere Augenblicke, die scheinbar so unschuldig sind, unter denen sich aber doch eine ungeahnte Möglichkeit des Unheils drohend erhebt…“
Nur der Vollständigkeit halber sei noch eine dritte, besonders kuriose Vorliebe Marcels auf diesem Sektor erwähnt: „Einen immateriellen, zuweilen aber nicht weniger intimen Reiz als bei der Annäherung und Vermischung unserer Körper stellte ich in der unserer Schatten fest.“ Wer es nicht glaubt, der möge es googeln: Tatsächlich gibt es auch heute noch „Schattenfetischisten“. Wie sagt die Stimme aus dem Off: „In jedem Augenblick muss man zwischen der Gesundheit, der Vernunft auf der einen Seite und den subtilen Genüssen des Geistes auf der anderen wählen.“
Freuden der Äußerlichkeit
Auch in einer anderen Hinsicht gestaltet sich Albertines Leben mit Marcel als sehr genussvoll: „Das Drum und Dran der weiblichen Toilette brachte für Albertine große Freuden mit sich. Ich konnte mir das Vergnügen nicht versagen, ihr jeden Tag eine neue zu bereiten.“ Das heißt: Marcel kauft ihr alles, was sie haben will. . „Albertine hegte für alle diese Dinge eine viel lebhaftere Neigung als die Herzogin von Guermantes, weil – wie jedes Hindernis, das sich dem Besitz entgegenstellt – die Armut, großzügiger als der Überfluss, den Frauen viel mehr schenkt als nur die Toiletten, die sie sich nicht kaufen können: nämlich das Verlangen danach, das erst eine wirkliche, ins einzelne gehende und in die Tiefe reichende Kenntnis davon verleiht.“ Doch „der Besitz von dem, was man liebt, ist eine noch größere Freude als die Liebe selbst.“ Dennoch war Albertine, was Marcel ausdrücklich betont, „nicht oberflächlich, las viel, wenn sie allein, und las mir vor, wenn wir zusammen waren.“ Und durch all das gibt sie ihm „eine Ruhe, wie sie (indem sie uns der Wirklichkeit enthebt, das Glück in uns selbst zu suchen) aus einem Gefühl von Familienfrieden und häuslichem Glück erwächst.“
Schatten über dem jungen Glück: Eifersucht und Langeweile
Zum ständigen Begleiter wird Marcel jedoch seine Eifersucht auf Albertines fragwürdige Kontakte zu ihren diversen Freundinnen. Ständig spioniert er ihr nach und wird dabei auch immer wieder fündig, was in ihm ein „Gefühl des Grauens“ auslöst. Mit Entsetzen entdeckt er „das ausschweifende Leben, das Albertine vor der Zeit unserer Bekanntschaft geführt hatte“. Doch auch während der Romanhandlung setzt Albertine ihre Aktivitäten fort. „Ich spürte, wie ihr Wesen sich zugunsten anderer Wesen, mit denen ich sie nicht hindern konnte, in Verbindung zu treten, mir entzog.“ Mit immer neuen Ausreden und Lügen („Die Lüge ist das wichtigste und meistverwendete Werkzeug der Selbsterhaltung.“) versucht Albertine, dies zu vertuschen. „Einerseits war es mir stets unmöglich, einen Schwur von ihr anzuzweifeln; andererseits befriedigten ihre Erklärungen keineswegs meinen Verstand.“ Doch kommt Marcel in einem klaren Moment zur Selbstdiagnose: „Ich litt infolge einer Interferenz meiner nervösen Erregungen, von denen meine Eifersucht nur das Echo war.“
Mit den heutigen medialen Möglichkeiten hätte Marcel leicht erkennen können, dass intime Kontakte junger Frauen zu ihren Freundinnen, selbst wenn sie sich in festen heterosexuellen Partnerschaften befinden, wohl zu allen Zeiten weit verbreitet waren und es bis heute sind (http://www.cosmopolitan.de/liebe-unter-freundinnen-ziemlich-beste-busenfreundinnen-67490.html), sich also keineswegs so ungeheuerlich ausnehmen, wie es Marcel vorkommt. (Was im übrigen auch einer besonders beliebten Männerphantasie mit offensichtlich wahrem Kern entspricht…)
Doch muss Marcel sich eingestehen, dass es gerade seine rasende Eifersucht ist, die sein Interesse an Albertine überhaupt noch aufrechterhält: „Von Albertine hatte ich nichts mehr zu erwarten. Täglich erschien sie mir weniger hübsch, einzig das Begehren, das sie bei anderen weckte, hob sie, wenn ich davon erfuhr, wieder zu leiden begann und sie jenen streitig machen wollte, in meinen Augen noch einmal zu neuem Ansehen empor. Sie konnte mir Leiden bereiten, aber durchaus keine Freude. Durch das Leiden allein wurde meine quälende Anhänglichkeit an sie genährt. … Ich war unglücklich. … Weil ich sie wie einen geheimnisvollen Vogel, dann wie eine große Schauspielerin der Meeresküste ersehnt und vielleicht sogar in Besitz genommen hatte, war sie mir einst so wundervoll erschienen. Nachdem ich den Vogel eingefangen hatte, … hatte Albertine nahezu ihre Schönheit eingebüßt, … war zur grauen Gefangenen geworden, auf ihr trübes Selbst zurückgeführt…“ Und er kommt zur schockierenden Erkenntnis: „Ich hatte eine erste Albertine gekannt, dann aber hatte sie sich plötzlich in eine zweite verwandelt, die gegenwärtige. Für die Verwandlung aber konnte ich einzig mich selbst verantwortlich machen.“
So stellen sich bei ihm auch ernste Zweifel an seinen Heiratsplänen ein: „Ich fragte mich, ob eine Heirat mit Albertine nicht mein Leben ruinieren würde, einerseits, weil ich damit die für mich zu schwere Aufgabe übernehmen müsste, mich einem anderen Wesen zu widmen, andererseits aber auch dadurch, dass sie mich zwang, infolge der unaufhörlichen Gegenwart einer Frau abwesend von mir selbst zu leben und mich für immer der Freuden der Einsamkeit beraubte. … Ich fühlte, wie das Leben, die Welt, deren Freuden ich noch niemals richtig gekostet hatte mir im Austausch gegen eine Frau entging, an der ich nichts Neues mehr zu finden vermochte. … Ich fühlte, dass mein Leben mit Albertine, soweit ich nicht eifersüchtig war, nichts als Langeweile, soweit ich es aber war, nur Leiden bedeutete.“
Nun denkt Marcel daran, was ihm sein verstorbener Freund Swann mit auf den Weg gegeben hat: „Ich staunte, wenn Swann nachträglich einer Frau, die mir unbedeutend erschienen war, die Würde eines Kunstwerks verlieh, indem er sie vor mir, so wie er es galanterweise auch ihr selbst gegenüber getan hatte, mit einem Porträt von Luini verglich oder in ihrer Toilette das Kleid oder die Schmuckstücke eines Gemäldes von Giorgione wiederfand. So etwas gab es bei mir nicht. Sogar – um die Wahrheit zu sagen – als ich Albertine wie einen von einer wundervollen Patina überhauchten musizierenden Engel zu betrachten begann und mich zu ihrem Besitz beglückwünschte, dauerte es nicht lange, bis sie mir wieder gleichgültig wurde…Man liebt nur da, wo man einem Unzugänglichen nachspürt, man liebt nur, was man nicht besitzt…“ Oder anders gesagt: „Diese Liebe konnte nur von Dauer sein, wenn sie unglücklich blieb.“
Wie jeder weiß, der einmal in einer Partnerschaft gelebt hat, ist für deren Gelingen die Entwicklung einer gemeinsamen Streitkultur von zentraler Bedeutung. Häufig zu beobachten sind dabei „inszenierte“ Trennungsszenen, bei denen beide Seiten mit der Drohung des endgültigen Zerwürfnisses eine Art Krieg gegeneinander führen und dabei alle strategischen und taktischen Register ziehen. So ist es auch bei Marcel und Albertine: „So kehrten wir einander eine Außenseite zu, die sich stark von der inneren Wirklichkeit unterschied. Zweifellos ist es immer so, wenn zwei Wesen einander gegenüberstehen, da jedes von ihnen über einen Teil von dem in Unkenntnis bleibt, was der andere eigentlich ist, und selbst über das, was er weiß, da er es nur zum Teil versteht… In der Liebe aber wird dieses Missverständnis auf die Spitze getrieben, weil wir – außer vielleicht, solange wir noch Kinder sind – es darauf anlegen, dass der äußere Anschein, den wir uns geben, nicht eigentlich genau unser Denken widerspiegelt, sondern das, was dieses Denken für das geeignetste hält, um uns an das Ziel unserer Wünsche zu bringen… Von einem gewissen Alter an tun wir aus Eigenliebe und kluger Einsicht so, als legten wir gerade auf die Dinge, die wir am meisten wünschen, keinen Wert. In der Liebe aber zwingt uns die einfache Einsicht … schon früh zu einem solchen Geist der Doppelzüngigkeit.“
Noch paradoxer wird es nur, wenn einer der beiden wirklich den Absprung im Sinn hat, „weil bei einer Trennung derjenige, der nicht mit wahrer Liebe liebt, die zärtlichen Dinge sagt, während wahre Liebe sich nicht deutlich ausspricht … denn die tausend Freundlichkeiten der Liebe können schließlich bei dem, der sie einflößt, aber nicht empfindet, eine Zuneigung, eine Dankbarkeit wachrufen, die weniger egoistisch ist als das Gefühl, das diese Regungen erzeugt, und die vielleicht nach Jahren der Trennung, wenn bei dem ehemals Liebenden nichts mehr davon zu finden ist, bei der Geliebten noch immer fortbesteht.“ Tatsächlich ist es Albertine, die scheinbar um jeden Preis bei Marcel bleiben will (was ja auch – ganz nüchtern betrachtet – allein in ihrem Interesse liegen kann) und dann – am Ende dieses Bandes – plötzlich und völlig überraschend mit gepacktem Koffer verschwunden ist. „Liebe ist“, weiß die Stimme aus dem Off, „Raum und Zeit, dem Herzen fühlbar gemacht.“
Kunsttheorie
Wohl dem, der seine Freuden nicht nur aus der Liebe zu ziehen vermag. Schon vor Albertines Verschwinden schärft Marcel seine Sinne für die schönen Künste. Entsprechend der Theorie des im Buch nicht namentlich erwähnten Schopenhauer, des pessimistischen Misanthropen, bewegt sich das menschliche Leben zuverlässig zwischen den Polen Schmerz und Langeweile. Den einzigen Ausweg, jedenfalls zu Lebzeiten (im Jenseits winkt ja noch das Eintauchen in die Weltseele), bieten die glücklichen Momente des Kunstgenusses. So ähnlich, und doch auf eigene Weise, erlebt es auch Marcel, insbesondere was den „spezifischen Rauschzustand durch Musik“ angeht. „Wie das Spektrum uns die Zusammensetzung des Lichts objektiv sichtbar macht, so gestatten uns die Harmonien eines Wagner, die Farben eines Elstir, die Essenz und die Beschaffenheit der Empfindungen eines andern kennenzulernen, in welche die Liebe zu einem Wesen uns nicht einzudringen erlaubt. … Wird dieses Unaussagbare, das jeweils gerade dem seine besondere Nuancierung verleiht, was jeder von uns empfindet, aber dennoch auf der Schwelle der Äußerungen zurücklassen muss, durch welche er mit anderen nur insoweit in Beziehung zu treten vermag, als er sich auf äußerere, allen gemeinsam zugängliche, bedeutungslose Dinge beschränkt, nicht erst durch die Kunst zutage gefördert, sobald diese in den Farben des Spektrums die innere Struktur jener Welten nach außen hin sichtbar macht, die wir als Individuen bezeichnen und die wir ohne die Kunst nie kennenlernen würden? … Die einzig wahre Reise, der einzige Jungbrunnen wäre für uns, wenn wir nicht neue Landschaften aufsuchten, sondern andere Augen hätten, das All mit den Augen eines anderen, von hundert anderen betrachten, die hundert verschiedenen Welten sehen könnten, die jeder einzelne sieht, die jeder von ihnen ist.“ Das aber vermögen wir nur in der Kunst, „wir fliegen dann wirklich von Stern zu Stern.“
Noch esoterischer wird es, als Marcel sich gedanklich über die Gespräche im Anschluss an eine Musikaufführung echauffiert: „Aber was bedeuteten ihre Worte, die wie jede nur am Äußern haftende menschliche Rede mich so gleichgültig ließen, verglichen mit dem himmlischen musikalischen Thema…Ich fühlte mich wahrhaft wie ein Engel, der, aus dem Rausch des Paradieses herabgestürzt, in die trivialste Wirklichkeit fällt. Und ich fragte mich, ob nicht … die Musik das einzige Beispiel dessen sei, was – hätte es keine Erfindung der Sprache, Bildung von Wörtern, Analyse der Ideen gegeben – die mystische Gemeinschaft der Seelen hätte werden können. Sie ist wie eine Möglichkeit, der nicht weiter stattgegeben wurde; die Menschheit hat eigene Wege eingeschlagen, die der gesprochenen und geschriebenen Sprache. Aber diese Rückkehr zum Nichtanalysierbaren war so berauschend, dass mir beim Verlassen des Paradieses die Berührung mit mehr oder weniger klugen Menschen außerordentlich banal erschien. … Ein Versprechen, dass es noch etwas anderes gebe – etwas, das zweifellos die Kunst verwirklichen kann, etwas anderes als das Nichts, das ich in allen Vergnügungen und in der Liebe selbst gefunden hatte…“
Klatsch und Tratsch von Monsieur de Charlus
Ansonsten bietet auch dieser Band der „Recherche“ wieder viel redundantes Geschwafel der „vornehmen Gesellschaft“. Hervorzuheben sind hier allein die Plaudereien des Baron de Charlus, der im übrigen von Madame Verdurin, der Gastgeberin einer schon aus den früheren Bänden bekannten illustren Salonrunde, auf ziemlich niederträchtige Weise gemobbt und aus der Runde herausgedrängt wird. Doch eben dieses Schicksal hatte ja selbst der brillante Swann zu seinen Lebzeiten erlitten. Nun verrät immerhin Baron de Charlus noch einige Details über diesen und insbesondere über dessen fatale Ehefrau Odette de Crecy: „Die Liebhaber, die Odette nacheinander gehabt hatte (sie hatte bald mit dem einen, bald mit dem anderen gelebt), diese Liebhaber begann Monsieur de Charlus mit der gleichen Sicherheit herzuzählen, als sage er die Reihe der Könige von Frankreich auf. … Aber Sie werden nicht von mir verlangen, dass ich Ihnen Swanns Geschichte erzähle, wir hätten da für zehn Jahre Stoff, verstehen Sie, denn ich kenne ihn wie kein anderer. … Sie ließ sich Odette de Crecy nennen und durfte das auch durchaus, da sie nur getrennt von einem Crecy lebte, dessen Frau sie war, einem sehr ehrenwerten und übrigens ganz echten Crecy, dem sie bis zum letzten Heller alles abgenommen hat. … Er lebte von einer ganz kleinen Pension, die Swann ihm ausgesetzt hatte. Ich vermute jedoch stark, dass seit dem Tode meines Freundes die Rente ihm nicht mehr ausgezahlt worden ist.“
Und schließlich redet Charlus geradezu obsessiv über Homosexualität, nur nicht über seine eigene: „Ich selbst lebe, wie Sie ja wissen, ganz und gar im Abstrakten, mich interessiert das alles nur unter einem transzendentalen Gesichtspunkt.“ – „Die Beharrlichkeit, mit der Monsieur de Charlus immer wieder zu seinem Thema zurückkehrte – für das im übrigen sein stets in gleicher Richtung sich betätigender Geist einen gewissen Scharfblick besaß – hatte etwas auf eine schwer entwirrbare Weise Peinliches; er war öde wie ein Gelehrter, der außerhalb seines Spezialfaches nichts kennt, aufreizend wie ein Eingeweihter, der sich auf die ihm anvertrauten Geheimnisse etwas zugute tut und darauf brennt, sie anderen zu verraten; unsympathisch wie jemand, der, sobald es um seine eigenen Fehler geht, sich darüber verbreitet, ohne zu merken, dass er Missfallen damit erregt; versklavt wie ein Süchtiger und hemmungslos unvorsichtig wie mancher Kriminelle.“ Prof. Brichot schlägt vor, eigens für Charlus einen Lehrstuhl für Homosexualität einzurichten, „oder noch besser: ein Institut für Spezialfragen der Psychophysiologie“.
Bonmots
Natürlich enthält auch „Die Gefangene“ wieder eine Überfülle von zeitlosen Bonmots über die verschiedensten Dinge des Lebens:
„Es scheint, dass bei Tatmenschen der Geist – überbeansprucht durch die Aufmerksamkeit auf das, was in der nächsten Stunde geschehen wird – nur sehr wenig Dinge dem Gedächtnis übergibt.“ Nur ist es heute für die vergesslichen Tatmenschen weitaus schwerer, sich im Nachhinein herauszureden, weil so viel früher Gesagtes medial aufgezeichnet worden ist, was später gegen sie verwendet werden kann.
„Das Gedächtnis ist eben weit weniger eine unseren Blicken immer gegenwärtige Kopie der verschiedenen Fakten unseres Lebens, als vielmehr ein Nichts, aus dem sekundenlang eine momentane Ähnlichkeit uns in einer Art von Auferstehung tote Erinnerungen heraufzuholen erlaubt; aber dabei gibt es immer tausend kleine Einzelheiten, die nicht in diese potentielle Erinnerungssphäre hinabgesunken sind, sondern für uns ewig unüberprüfbar bleiben.“ Es sei denn, man findet auf YouTube ein Video von der in der eigenen Kindheit geschauten Fernsehsendung und staunt, mit welch anderen Augen man sie heute betrachtet.
Vor allem aber gilt: „Wir stellen uns eben die Zukunft wie einen in einen leeren Raum projizierten Reflex der Gegenwart vor, während sie oft das bereits ganz nahe Ergebnis von Ursachen ist, die uns zum größten Teil entgehen.“
Marcel Proust
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 5:
Die Gefangene
Deutsch von Eva Rechel-Mertens
551 Seiten
Suhrkamp Verlag
Die Besprechungen der ersten vier Bände der „Recherche“ gibt es hier:
www.justament.de/archives/1399
www.justament.de/archives/2517
www.justament.de/archives/4043
www.justament.de/archives/5841
Mehr von Justament-Autor Thomas Claer unter:
www.thomas-claer.de
„Begehren, das die Welt regiert: Es gibt keine Objektivität jenseits des Begehrens. Alles öffentliche Geschehen löst sich bei näherer Betrachtung in Liebesgeschichten auf.“ Dr. Ulrike Sprenger im Gespräch mit Alexander Kluge: http://www.dctp.tv/filme/proust_begehren-das-die-welt-regiert/ (15 Minuten)