„Grundrechtsgeltung in digitalen Systemen“ von Udo di Fabio
Matthias Wiemers
Die Digitalisierung aller Lebensbereiche schreitet unaufhaltsam voran. Wenn ich so einleite, fällt mir sogleich auf, dass ein ähnliches Phänomen früher als „Ökonomisierung aller Lebensbereiche“ beschrieben wurde. Und in der Tat haben beide Thesen mehr als die Namensähnlichkeit gemeinsam.
Udo Di Fabio, gleichermaßen im Recht und in der Soziologie zu Hause, hat es mit einer kleinen Schrift unternommen, sich einer Herausforderung zu stellen: der Herausforderung, die die Digitalisierung, die zunächst ein soziologisches Phänomen ist, an den Geltungsanspruch des Rechts stellt.
Eine der ersten Feststellungen, die der Autor trifft, ist: „Das Recht gilt auch für das Netz“ (S. 11). Er beschreibt sodann das Phänomen einer „asymmetrischen Lage“ zugunsten der großen US-amerikanischen Internetplattformen, die dem Internet als „Intermediäre“ eine ihnen nützliche Ordnung gäben, „die sowohl die Rolle der Nutzer, der Realwirtschaft und der regulierenden Staaten zunehmend definiert.“ (S. 11). Eine schöne Beobachtung folgt sogleich: „Die teilweise intransparenten Geschäftsmodelle von Plattformen drängen die Realwirtschaft im Konsumentenmarkt zu radikaler Transparenz“ (S. 12).
Schon im ersten Teil „Die digitale Verwandlung der Welt“ stellt Di Fabio bereits die Frage: „Kann das Netz rechtlich reguliert werden?“, aber im wesentlichen geht es hier um eine Bestandsaufnahme, die mit zahlreichen interessanten und zutreffenden Beobachtungen gespickt ist. So weist Di Fabio etwa auf eine „Verschiebung dessen, was wir Öffentlichkeit nennen“ hin, die nicht mehr mit professionellen Journalisten mit dem Ethos einer kritischen und gut fundierten Berichterstattung ausgestattet ist (S. 26). Hier drängt sich sogleich die Parallele zur Privatisierung öffentlicher Aufgaben auf: Es ist das Ethos des Berufsbeamtentums, disziplinarrechtlich abgestützt, das die Gemeinwohlbindung öffentlicher Aufgaben vor ihrer Privatisierung mit sichert und das nach der Privatisierung nur durch zusätzliches Recht substituiert werden kann.
Di Fabio erkennt das Problem der vielbeschworenen „Verbrauchertransparenz“, die sich letztlich gegen die Verbraucher selbst wende (S. 32). Er entlarvt viele Netzaktivisten, deren Hauptaugenmerk auf der Kostenlosigkeit der Internetnutzung zu liegen scheint (S. 33), und „bestimmte Vertreter der Netzöffentlichkeit“ , die als Anwälte einer neuen öffentlichen Meinung auftreten, werden letztlich als naiv charakterisiert, weil die Netzöffentlichkeit „hierarchisch aufgebotenen Machtorganisationen wie politischen Parteien, dem Militär oder einer Bürokratie“ unterlegen seien (S. 35).
Habe sich das Netz zunächst als Instrument zur Steigerung der Möglichkeiten und Fähigkeiten zur freien Entfaltung der Persönlichkeit gezeigt, so wandele es sich heute zu einem System der Selbstdetermination (S. 35), wobei wir zu einer Kernthese des Buchs gelangen. Di Fabio stellt fest, es verschiebe sich „unmerklich die Subjektstellung vom Mensch zu Maschine und den dort programmierten Lenkungsinteressen“ (S. 36). In Bezug auf whatsapp wird von einer „Risikolage für das allgemeine Persönlichkeitsrecht“ gesprochen (S. 38). Ein schönes Zitat: „Aus der eigenwilligen und kritischen Persönlichkeit, von der westliche Demokratien existentiell abhängig sind, würde dann womöglich eine durch kostenlose Umgarnung von Leistungen eingesponnene Person werden, die buchstäblich durch technische Selbstkontrollstandards und Trends der jeweiligen Netzgemeinde angepasst ist und ihrerseits abweichendes Verhalten anderer sucht. Aus der Persönlichkeit würde ein nützliches Element autonomer Netzwerke, das in global operierende kommerzielle Verwertungsbedingungen eingepasst ist“ (S. 39). Das erste Kapitel schließt mit einem Ausblick auf die nachfolgenden Teile, mit einem Blick auf das Ziel, „regulative Orientierung durch die grundrechtliche Werteordnung“ zu erlangen (S. 42).
Es folgt im nächsten Kapitel ein Zwischenblick auf zunächst das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das Di Fabio freilich nicht als eigenständiges Grundrecht qualifiziert, sondern als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, das im zweiten Abschnitt des Kapitels näher beleuchtet wird.
In diesem Zusammenhang scheint mir die Hervorhebung eines besonderen Aspekts von Bedeutung: Der Persönlichkeitsschutz gebiete, dass die Nutzung von Daten dem Netznutzer von den Intermediären kenntlich gemacht werden müsse und seiner Zustimmung bedürfe: „Denn im öffentlichen Raum kann nur derjenige selbstbestimmtes Subjekt bleiben, der sein für andere zugängliches Bild im öffentlichen Raum als sozialen Selbstdarstellungsanspruch beherrscht und überschaut“ (S. 51).
Am Schluss wird die Frage nach der „infrastrukturellen Schutzverantwortung des Staates“ aufgeworfen (S. 57).
Di Fabio untersucht diese Frage im dritten Kapitel unter den Gesichtspunkten der Meinungsfreiheit und Pressefreiheit. Er erinnert dabei an die Funktion von Meinungs- und Pressfreiheit als „Grundlage der Demokratie“ (S. 61), betont aber auch, google sei „ein markanter Teil des freien Westens mit einem eigenen legitimen Anspruch, seine Geschäftsidee und seine technischen Innovationen am Markt anzubieten“ (S. 63). Der infrastrukturelle Gewährleistungsauftrag müsse nach Di Fabio den Prozess des Informationsaustauschs und der Wissenserlangung frei und funktionsfähig erhalten (S. 64). Der Autor arbeitet deshalb nachfolgend eine Schutzpflicht des Staates „zur Vielfaltsicherung und Erhaltung tragender Grundlagen des Kommunikationsgrundrechts“ heraus. Aus dem deutschen und europäischen Grundrechtsenken folge eine gesteigerte Verantwortung der medialen Intermediäre“ (S. 66). Den „Kern des Konflikts“ sieht Di Fabio darin, dass die klassischen Intermediäre der Presse und der Buchverlage in die „Ertragsdefensive“ gedrängt würden, während sich die neuen Intermediäre keiner spezifisch journalistischen oder öffentlichen Informationsverantwortung unterworfen sehen (S. 69 f.).
Nach einem Zwischenblick auf „Wirtschaftsfreiheiten im Netz“, die insbesondere vor dem Hintergrund des Eigentumsschutzes von Urheberrechten aktualisiert werden, stellt Di Fabio im Schlusskapitel einen „Systemzusammenhang zwischen Persönlichkeitsrecht, Rechtswahrung und dem Schutz demokratischer Grundlagen“ her. Angesichts einer drohenden „technologiebasierten sanften Entmündigung der Bürger“ (S. 91) formuliert Di Fabio abschließend „Elemente einer grundrechtlich kompatiblen Digitalverfassung“, die zu einer Schutzpflicht der nationalen und EU-Ebene mit einigen von Di Fabio skizzierten Eckpunkten führen. Diese Eckpunkte, die hier nicht wiedergegeben werden sollen, empfehle ich im Wege einer Lektüre des handlichen Bändchens möglichst vielen Bürgern, Verbrauchern und Politikern nachzulesen und über deren Konsequenzen im Sinne zielführender und durchsetzbarer Regulierungsschritte nachzudenken. Die Zeit drängt!
Udo di Fabio
Grundrechtsgeltung in digitalen Systemen. Selbstbestimmung und Wettbewerb im Netz
Verlag C. H. Beck, München 2016
104 S., 19,95 Euro
ISBN 978-3-406-69309-0