Kinder, Kinder

Der Erzählungsband „Lettipark“ von Judith Hermann

 

Thomas Claer

LettiparkNeue Kurzgeschichten von Judith Hermann? Sieben Jahre nach ihrem letzten Erzählungsband und zwei Jahre nach ihrem verunglückten Roman-Debüt, das wir ihr längst verziehen haben? Da freut man sich doch gleich und beginnt erwartungsvoll zu lesen. Aber schnell merkt man, dass die Judith Hermann von 2016 nicht mehr jene von 1998 ist, die uns seinerzeit in „Sommerhaus, später“ mit dem „Sound einer neuen Generation“ betörte. (Womöglich ließe sich in diesem Zusammenhang auch von der „Generation Berlin“ sprechen, denn nicht wenige von uns sind damals sozusagen mit diesem Buch im Gepäck – gleich neben Sven Regeners „Herr Lehmann“ und Wladimir Kaminers „Russendisko –  in die Hauptstadt gezogen, auf der Suche nach dem wilden Leben in der noch unfertigen Metropole.) Inzwischen jedoch ist mit der Autorin auch das Personal ihrer Erzählungen um fast zwei Jahrzehnte gealtert, was nicht unbeträchtliche Spuren hinterlassen hat.
Nun sind die insgesamt 17, allesamt recht kurzen Geschichten dieses Buches sowohl inhaltlich als auch personell sehr heterogen. (Stilistisch sind sie es nicht unbedingt, dafür aber qualitativ.) Judith Hermanns Ich-Erzähler schlüpfen in die unterschiedlichsten Charaktere, sind mal männlich, mal weiblich, mal arm, mal gut situiert. Doch sind sie fast alle verheiratet und haben Kinder, manche sind geschieden und leben in Patchwork-Familien. Überhaupt dreht sich bei ihnen fast alles um den Nachwuchs. Wo bleiben da, so fragt man sich, die vielen Singles, die fast 50 Prozent kinderlosen Akademiker? Nun, auch sie treten vereinzelt auf, etwa als besessene Frau mit fanatischem Kinderwunsch, die schließlich ein russisches Kind adoptiert, woraufhin ihr Lebensgefährte sich fragt, ob er nicht besser die Reißleine ziehen sollte. Es liegt wohl auch daran, dass Leute mit Kindern meistens nur Leute mit Kindern kennen und Kinderlose meistens nur Kinderlose. Problematisch daran ist allein, dass die häufige Fixierung auf Kinder und Jugendliche diesen Geschichten nicht unbedingt guttut. Marcel Reich Ranicki muss es wohl geahnt haben, als er Judith Hermann nach ihren ersten Erfolgen mit den Worten warnte: „Bekommen Sie bloß kein Kind. Dann werden Sie nie wieder ein gutes Buch schreiben!“
Eine Geschichte, „Papierflieger“, die von einer alleinerziehenden Mutter und ihrem Freund handelt, den sie aber nur zum Aufpassen auf den Kleinen gebrauchen kann und will, ist trotzdem richtig gut geworden. Die kleinen poetischen Momente des Lebens vermag diese Autorin manchmal sehr gut einzufangen, mitunter auch die großen existentiellen wie in der Titel-Erzählung „Lettipark“, wo die Protagonistin zufällig an der Supermarktkasse eine alte Bekannte trifft – und alles, was früher einmal gewesen ist, kommt wieder in ihr hoch. Was Judith Hermann nicht so gut kann, ist das Setzen von Schluss-Pointen, mit denen sie jedenfalls in diesem Band regelrecht auf Kriegsfuß steht. Manche Geschichten werden durch ihr schwaches Ende regelrecht ruiniert. Ansonsten wird in diesen Erzählungen viel gereist, dafür aber – in krassem Gegensatz zu früher – fast gar nicht mehr geraucht. Geblieben jedoch ist die Melancholie, die über allen Geschichten liegt. Lachen musste ich beim Lesen nur ein einziges Mal, als die Ich-Erzählerin von einem gesprächigen Freund berichtete. Beim Telefonat mit diesem legte sie zwischenzeitlich den Hörer beiseite, um den Geschirr-Abwasch zu erledigen. Als sie ihn wieder aufnahm, redete ihr Freund noch immer munter weiter und hatte die längere Abwesenheit des Gegenübers gar nicht bemerkt. Kam mir irgendwie bekannt vor.

Judith Hermann
Lettipark. Erzählungen
Fischer Verlag Frankfurt a. M. 2016
187 Seiten, 18,99 EUR
ISBN: 978-3-10-002493-0

Veröffentlicht von on Aug. 22nd, 2016 und gespeichert unter DR. CLAER EMPFIEHLT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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