Ein Vater des Genossenschaftswesens

Deutsche Juristenbiographien, Teil 10: Hermann Schulze Delitzsch (1808–1883)

Matthias Wiemers

Neben dem vornehmlich im Bereich der Landwirtschaft tätigen Friedrich Wilhelm Raiffeisen ist es für das Handwerk der Jurist Hermann Schulze Delitzsch, der den Gedanken der genossenschaftlichen Selbstverwaltung in Deutschland in politische Reformen umsetzt. Hermann Schulze wird am 29. August 1808 als Sohn eines Juristen in der kursächsischen Kleinstadt Delitzsch geboren. Ab 1821 besucht er die Nikolaischule in Leipzig, wo er im Jahre 1827 das Abitur besteht. Nach Jurastudium in Leipzig (bis 1829) und Halle legt Schulze 1830 das Erste Staatsexamen vor dem Oberlandesgericht Naumburg ab und arbeitet danach als Auskultator am Landgericht Torgau, während er zugleich seinen einjährigen Wehrdienst ablegt. Von 1832 bis 33 wieder am OLG Naumburg und Zweites Staatsexamen im Herbst des Jahres. Es folgt ein sechsmonatiges Studium der Kriminalgerichtspraxis beim Inquisitoriat in Wittenberg. Noch vor Ablegung des Dritten Staatsexamens erfolgt eine Unterbrechung der Ausbildung, weil Schulze seinen erkrankten Vater in dessen Funktion als Patrimonialrichter in Delitzsch vertreten muß. Nach dem Examen im Januar 1838 Ernennung zum Oberlandesgerichtsassessor. Nach kurzer Tätigkeit in Naumburg Wechsel ans Kammergericht in Berlin und ab 1840 Übernahme einer Patrimonialrichterstelle im heimischen Delitzsch.
Während dieser Jahre beteiligt sich Schulze an zahlreichen Vereinsgründungen und schließt sich der revolutionären Bewegung um das Jahr 1848 an, was ihn zum Kandidaten zur in Berlin tagenden Preußischen Nationalversammlung werden lässt. Darin ist er Mitglied einer „Kommission für Handel und Gewerbe unter besonderer Berücksichtigung der Handwerkerverhältnisse“. Zwar wird Schulze kurze Zeit darauf auch in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt, entschließt sich aber für die Annahme nur des Preußischen Mandats. Um sich von Namensvettern im Parlament zu unterscheiden, nimmt er den Namen seiner Heimatstadt als zweiten Nachnamen an. Im Parlament ist Schulze Delitzsch Mitglied des „linken Zentrums“ und setzt sich für eine Parlamentarische Monarchie und ein demokratisches Wahlrecht ein. Nach einem Aufruf an die Bevölkerung zur Steuerverweigerung, um die ungestörte Tätigkeit der Nationalversammlung in Berlin zu gewährleisten, löst die Regierung die Preußische Nationalversammlung auf und oktroyiert eine Verfassung mit Zwei-Kammer-System und sonach einem Drei-Klassen-Wahlrecht. Schulze gehört der Zweiten Kammer für den Wahlkreis Bitterfeld-Delitzsch an.
Das Amt als Patrimonialrichter, das Schulze schon während der Vertretung seines Vaters kennen- und schätzengelernt hat, weil es ihn in unmittelbaren Kontakt mit der ländlichen Bevölkerung und deren Problemen bringt, endet im Jahre 1949, weil Preußen diese überkommene Einrichtung als Mischung von örtlicher Verwaltung und unterer Gerichtsbarkeit aufhebt. Danach kurze Zeit Tätigkeit als Armenadvokat und Rechtsberater und sodann Versetzung als Hilfsrichter nach Wreschen (Provinz Posen). Aufgrund von Differenzen mit dem Justizministerium Bitte um Entlassung aus dem Justizdienst im Jahre 1851 und Tätigkeit als Gutachter und Mitarbeiter einer Anwaltskanzlei in Delitzsch.
Nach der Regierungsübernahme durch den späteren Kaiser Wilhelm I. in den Jahren 1858 schart Schulze, überzeugt von der Notwendigkeit einer nationalen Einigung, unterschiedliche politische Kräfte um sich, was in die Gründung des „Deutschen Nationalvereins“ mündet.. Seit 1858 zunächst ohne Parlamentsmandat, erhält Schulze drei Jahre später im Rahmen einer Nachwahl einen Berliner Wahlkreis, während er an der Gründung der liberalen „Fortschrittspartei“ beteiligt ist. Ein Jahr später Umzug der vierköpfigen Familie nach Potsdam. Im Parlament engagiert sich Schulze u. a. für die Ministerverantwortlichkeit vor dem Parlament wie auch die Pressefreiheit und streitet schließlich im Schwerpunkt für die gesetzliche Regelung eines Genossenschaftswesens, wobei die Gründung von Genossenschaften frei von staatlicher Genehmigung sein soll. Seit 1867 zunächst Abgeordneter des Norddeutschen Bundes, wird Schulze danach auch Reichstagsabgeordneter – ab 1874 bis zu seinem Tod für den Wahlkreis Wiesbaden.
Seit 1873 Inhaber eines juristischen Ehrendoktorat der Universität Heidelberg aufgrund des wissenschaftlichen Charakters einer Schrift über die von ihm maßgeblich mitgestaltete Genossenschaftsgesetzgebung, ist Herrmann Schulze Delitzsch nach kurzer schwerer Krankheit am 29. April 1883 in Potsdam gestorben.
Das Wirken Schulze Delitzschs für das Genossenschaftswesen kann an dieser Stelle nicht ausführlich geschildert werden, es beginnt aber praktisch während der Arbeit als Patrimonialrichter, als er der Not der unter zunehmender Industrialisierung leidenden ländlichen Handwerker, aber auch der ungelernten Industriearbeiter, zu begegnen sucht. Es werden Hilfskassen zur Absicherung von Krankheit und Tod, aber auch Einkaufs- und Produktionsgenossenschaften gegründet. Besondere Bedeutung kommt den „Vorschußkassen“ zur Deckung handwerklichen Finanzbedarfs zu, den späteren Spar- und Darlehenskassen. Bei allem Engagement für das Handwerk tritt Schulze niemals für die Rückkehr zum mittelalterlichen Zunftwesen ein, ist vielmehr ein Befürworter von Gewerbefreiheit und Eigenverantwortung, die freilich gemeinschaftlich wahrgeommen werden soll – eben genossenschaftlich.

Quelle: Schulze-Delitzsch – ein Lebenswerk für Generationen, herausgegeben vom Deutschen Genossenschaftsverband, Bonn 1987

Veröffentlicht von on Feb 27th, 2017 und gespeichert unter DRUM HERUM, RECHT HISTORISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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