Aus Pieroth / Schlink wird Kingreen / Poscher
Michael Stern
Für viele frühere Juristengenerationen muss diese neue Auflage ein unbekannter Anblick sein. Die Namen Pieroth / Schlink sind vom Buchcover ganz verschwunden und an ihrer Statt liest man nun Kingreen / Poscher. Den Pieroth / Schlink als Institution zu bezeichnen, ist sicherlich nicht zu hoch gegriffen. Und so treten die beiden neuen Autoren Kingreen und Poscher ein schweres Erbe an. Die Verantwortung für das Werk tragen sie inhaltlich schon seit der 29. Auflage.
Der erste Teil des Buches zu den allgemeinen Grundrechtslehren wird von Studenten zu Unrecht nur stiefmütterlich behandelt. Studenten, die Näheres zu den Funktionen von Grundrechten wissen möchten, sei das vierte Kapitel wärmstens empfohlen. Dieses Thema wird nicht selten von Studenten ausgelassen oder nur sehr schnell behandelt. Meistens werden nur starre Prüfungsschemata (beispielsweise: Schutzbereich eröffnet / Eingriff in den Schutzbereich / Rechtfertigung) auswendig gelernt, ohne zum Kern vorzudringen. Auf die Funktionen der Grundrechte abgestellt, sollte die subjektiv-rechtliche Funktion der Grundrechte den Studenten noch am eingängigsten sein. In erster Linie sind Freiheitsrechte Abwehrrechte, wobei die Kenntnis des Schlagwortes „status negativus“ in diesem Zusammenhang sicherlich noch nicht zuviel abverlangt sein dürfte. Sehr streitig wird es allerdings bei Ansprüchen, die aus Grundrechten abgeleitet werden. Der Anspruch auf Schutz und die Leistungsansprüche setzen schon vertieftere Kenntnisse voraus. Nach der Lektüre des vierten Kapitels sollte Studenten klar werden, dass spiegelbildlich zum Anspruch auf Schutz die objektive Schutzpflicht steht, die wiederum in die objektiv-rechtliche Funktion der Grundrechte einzuordnen ist. Im Verfassungsrecht werden detaillierte Kenntnisse zentraler Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes vorausgesetzt. Nicht von ungefähr wird in der Literatur von einer „zunehmende[n] Bedeutung des verfassungsrechtlichen ‚Case-Law‘ “ (Christian Bumke / Andreas Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 7. Auflage 2015, s. Vorwort S. VI) gesprochen. In Bezug auf den Anspruch auf Schutz ist sicherlich der Schleyer-Fall von zentraler Bedeutung. Aber auch die höchst umstrittenen Leistungsansprüche sollten nicht ausgespart werden. Studenten, die nicht zwischen derivativen und originären Leistungsansprüchen zu unterscheiden vermögen, werden in der Fallprüfung schon am Aufbau scheitern. Bei der objektiv-rechtlichen Funktion von Grundrechten müssen Fallgruppen wie mittelbare Drittwirkung von Grundrechten im Privatrecht, objektive Schutzpflichten und Einrichtungsgarantien bekannt sein. Nach dem vierten Kapitel sollten zu den Funktionen von Grundrechten jedenfalls keine Fragen mehr offen geblieben sein.
Nach den allgemeinen Grundrechtslehren folgen die einzelnen Grundrechte. Zu Beginn eines jeden Kapitels ist ein Fall abgedruckt. Es folgen die abstrakten Ausführungen und am Ende des Kapitels wird die Lösung des Falles vorgestellt. Wenn der Leser vor Lektüre der Lösung den Fall selbst löst – wenn nicht auf Papier so doch zumindest im Kopf –, ist ein umfassender Lernerfolg garantiert. Auch der prozessuale Teil zur Verfassungsbeschwerde, der die beiden letzten Kapitel einnimmt, kann uneingeschränkt empfohlen werden.
Der Kingreen / Poscher setzt seit einigen Auflagen neue Akzente. Dabei ist zweifellos davon auszugehen, dass die Qualität, für die der Pieroth / Schlink sich verbürgte, auch im neuen Autorengespann in keiner Weise nachlassen wird. Auch zukünftige Juristengenerationen werden mit dem Kingreen / Poscher aus dem Hause C.F. Müller goldrichtig liegen.
Kingreen / Poscher
Grundrechte. Staatsrecht II
32., neu bearbeitete Auflage 2016. 357 S.
23,99 €
C.F. Müller
ISBN 978-3-8114-4167-5