Benjamin Grahams Großwerk zur Wertpapieranalyse
Patrick Mensel
Wenn es um das Value-Investing geht, ist für viele Benjamin Graham immer noch die unangefochtene Nummer eins. Umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass in dieser schnelllebigen Branche Bücher aus den 30er (Die Geheimnisse der Wertpapieranalyse / Security Analysis 1934) und 40er Jahren (Intelligent Investieren / The Intelligent Investor 1949) des letzten Jahrhunderts heute noch als Standardwerke angesehen werden. Das kann man wahrlich nicht von jedem Finanzbuch behaupten.
Am 9. Mai 1894 als Benjamin Grossbaum geboren, verließ Graham mit seiner Familie Großbritannien ein Jahr später und ging nach New York. Mit anglisiertem Namen (Graham) und einer guten beruflichen Stellung des Vaters integrierten sich die Grahams schnell und es ging ihnen wirtschaftlich gesehen recht gut. Dies änderte sich allerdings 1903 mit dem Tod des Vaters. Es half auch nichts, dass die Mutter das Familienhaus als Pension betrieb. Der vier Jahre später einsetzende Crash brachte der Familie den wirtschaftlichen Ruin. Die Mutter hatte sich an der Börse verspekuliert. Für Benjamin Graham begann ein unschöner Zeitabschnitt, der ihn sicherlich stark prägte und seinen künftigen Berufsweg entscheidend mitbestimmte. Als begabter Student der Columbia University konnte Graham erste Erfolge verbuchen. Ein Angebot als Dozent schlug er aus und begann 1914 seine berufliche Laufbahn an der Wall Street. Zunächst hieß es abwarten. Wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges schloss die New Yorker Stock Exchange für einige Zeit. Bei Wiederaufnahme des Handels konnte Graham mit seiner Investmentstrategie große Erfolge verbuchen. Die Zwanziger Jahre waren – von dem Börsencrash 1929 abgesehen – für Aktien eine gewinnträchtige Zeit. Die Graham-Newman Corporation konnte gute Gewinne verzeichnen. Es war die Zeit, in der Graham mit seiner Fundamentalanalyse zum großen Wurf ausholte. Doch der Börsencrash von 1929 forderte seinen Tribut. Mehr als zwei Drittel Wertverlust mussten erstmal verkraftet werden. Die Firma konnte die Börsen-Talfahrt letzten Endes aber überstehen.
1928 hatte Graham eine Vorlesung zum Wertpapierhandel an seiner Alma Mater gehalten. Diese Vorlesung sollte sich noch zu einer veritablen Institution mausern. Bis 1956 hielt er seine Vorlesung zur Wertpapieranalyse. David Dodd, Mitautor von „Die Geheimnisse der Wertpapieranalyse“, unterstützte ihn dabei. Die Vorlesung ist – zeitlich gesehen – vielleicht nicht als Geburtsstunde des Value-Investing anzusehen, aber ihr kommt zumindest als Vervollkommnung seiner Methoden eine große Bedeutung bei.
„Die Geheimnisse der Wertpapieranalyse“ ist für Value-Investoren eine Art Bibel. Grahams Unterscheidung zwischen Investments und Spekulationen mag in der heutigen Zeit als etwas Selbstverständliches erscheinen, doch er war in der Tat der Erste, der diese Unterscheidung sorgfältig vornahm und etablierte. Ein Investment setzt eine sorgfältige Analyse voraus, die das Kapital sichert und eine entsprechende akzeptable Rendite beschert. Alles andere sei Spekulation. Das hört sich zunächst einfach an, die Umsetzung ist aber das Problem, bei der die meisten Investoren Fehler machen oder sogar scheitern.
Fasst man Grahams Methode rudimentär zusammen – wobei einige Punkte im Vergleich zum ausführlicheren Werk deutlich vereinfacht dargestellt werden – so lässt sich zunächst sagen, dass Anleger Aktien wirklich als Anteile eines Unternehmens begreifen sollten. Sprich: Der Anleger sollte den Markt erstmal ausblenden und sich nur auf das Unternehmen konzentrieren. Dies scheint eine einfache Lektion zu sein, doch viele halten nicht mal diese ein. Man sollte den Fokus auf das Management und die Liquidität legen. Das Geschäftsmodell sollte verstanden worden sein, die Gewinnaussichten ausgelotet werden. Nur bei einem guten Einblick in das Unternehmen sollten Anleger einsteigen.
Darauf aufbauend stellt sich die Frage, bei welchem Kurs man einsteigt. Für Graham war die Sicherheitsmarge essentiell. Das Unternehmen sollte unterbewertet sein. Je mehr, desto besser. Je niedriger der Kurs, umso höher die Sicherheitsmarge und die Rendite. Dabei muss natürlich die Börsenkapitalisierung niedriger sein als das Nettoumlaufvermögen und das Sachanlagevermögen, bereinigt um die Schulden des Unternehmens. Mit der Bestimmung dieser Posten beginnt die eigentliche Arbeit des Value-Investors. Graham legt bei dieser Ermittlung eigene Schwerpunkte, die von einigen Investoren auch kritisiert wurden. Besonders Entwicklung, Zukunftsperspektiven oder Marketingstrategien sollen hier viel zu kurz gekommen sein. Ob diese Kritik angebracht ist oder nicht, niemand ist daran gehindert Grahams Methode auszuarbeiten und sie an einigen Stellen anzupassen. Selbst Warren Buffett hat dies mit überwältigendem Erfolg getan – wie man an jeder neuen Forbes-Reichen-Liste ablesen kann. Dies kann also nicht der „Graham-Methode“ zum Nachteil angerechnet werden. Was die Sicherheitsmarge angeht, so kommt ihr bei Graham besondere Bedeutung zu. Er warnt den Anleger, dass er eines Tages selbst Fehler begehen werde. Um vor Nachteilen geschützt zu sein, sollte die Sicherheitsmarge hoch genug sein.
Überhaupt kommt der Psychologie bei Graham große Bedeutung zu. Er warnt vor dem Markt, der in seiner Irrationalität nicht wenige Anleger mitgerissen hat. Daher lautete auch der Ausgangstipp, dass der Markt erstmal ausgeblendet werden sollte. Hat man seine Hausaufgaben gemacht, so werde man auch auf lange Sicht seinen Gewinn einfahren. Von Kursschwankungen dürfe man sich nicht beeindrucken lassen; am besten, so Graham, schaue man selten ins Depot. Dazu kommen noch Grahams Tipps, wie der Anleger beschaffen sein sollte. Eine gewisse geistige Unabhängigkeit, ein kritischer Geist und Selbstdisziplin sind unabdingbar. Diese Faktoren haben mit Intelligenz im klassischen Sinn nichts zu tun. (In „Intelligent investieren“ bringt Graham das Beispiel von Isaac Newton, der trotz seiner Begabungen eine fatale Fehlentscheidung an der Börse fällte, gerade weil er sein Spekulationsfieber nicht unter Kontrolle gehalten hat.)
Allerdings sind auch viele Ausflüge in die Börsenhistorie eingeflochten. Das mag auf einige Leser vielleicht etwas angestaubt wirken; wer allerdings aus der Vergangenheit nicht lernt, ist dazu verdammt sie wieder zu durchleben (George Santayana). Das sollte für den ein oder anderen Ansporn genug sein.
Am Büchermarkt gibt es zahlreiche neue Aufgüsse von Grahams Methode. Wer allerdings das Value-Investing wirklich ernsthaft betreiben möchte, sollte das Original von Benjamin Graham zumindest einmal im Leben in der Hand gehalten haben. William J. Ruane, Irving Kahn oder Warren Buffet schwören auf ihren Lehrmeister. Das allein ist eigentlich schon genug. Es ist immer wieder schön zu sehen, dass Bücher, obwohl sie vor Jahrzehnten zu einem schnelllebigen Markt geschrieben wurden, immer noch nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt haben.
Die Geheimnisse der Wertpapieranalyse: Überlegenes Wissen für Ihre Anlageentscheidung
Benjamin Graham, David Dodd
FinanzBuch Verlag; 5. Auflage, 2016
944 Seiten
ISBN-10: 3898799530
ISBN-13: 978-3898799539