Freunde

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

Adriano Celentano spielt in einem Film aus den 80er Jahren einen Rechtsanwalt, der den unübertrefflichen Spruch aufsagt: „Ich habe nur einen einzigen Fehler: Ich bin einfach zu nett. Meine Freunde würden das bestätigen, wenn ich welche hätte.“ Da ist was dran. Ich meine, nette Menschen haben viele Freunde. Und wer wenige oder keine Freunde hat, der ist wahrscheinlich nicht so nett oder hat insgesamt nicht so viele guten Eigenschaften. So gesehen bin ich wohl nicht so nett. Oder genauer gesagt: Ich war früher sehr nett und bin es jetzt wohl nicht mehr so. Ein wichtiger Umstand ist sicherlich auch, dass ich nicht bei Facebook bin (und auch weiterhin großen Wert darauf lege, es nicht zu sein). Denn wer bei Facebook ist, der hat ganz schnell ganz viele Freunde. Es hat bei mir aber auch damit zu tun, dass ich in meinem früheren Leben oft umgezogen bin und dadurch immer wieder aus meinem jeweiligen Freundeskreis herausgerissen wurde. Zuletzt vor 15 Jahren, als ich mit meiner Frau unserem Studienort den Rücken kehrte und Hals über Kopf nach Berlin abwanderte. Damals war es uns auch wichtig, den ganzen alten Kram hinter uns zu lassen. Da waren wir aber auch schon über 30, und in diesem Alter schließt man nicht mehr automatisch enge Freundschaften, außer wenn man sich aktiv darum bemüht, was ich aber nicht getan habe (meine Frau hingegen schon). Mit zunehmendem Alter prägt sich nämlich die Individualität immer weiter aus, und es wird unwahrscheinlicher, jemanden zu treffen, der ähnlich tickt wie man selbst, und mit dem man nicht nur punktuell gut harmoniert. Bei mir war es aber auch so, dass ich in den letzten anderthalb Jahrzehnten immer sehr viele berufliche Kontakte hatte, aus denen sich eine Reihe monothematischer Verbindungen ergeben hat. Mit dem einen rede und schreibe ich nur über Aktien, mit der anderen nur über Immobilien, mit wieder anderen nur über Fußball oder nur über Pop-Musik oder Filme. Doch eine tiefe Freundschaft fürs Leben, die einen durch dick und dünn begleitet, ist daraus nicht entstanden. Muss ich mich deshalb als unvollkommener Mensch fühlen? Ich bilde mir ein, nichts zu vermissen. Aber vielleicht hätte ich doch gerne enge Freunde, so wie die meisten anderen Menschen, und will es mir nur nicht eingestehen.
Wie anders waren da doch meine verstorbenen Eltern: Sie hatten einen riesigen Freundeskreis, an dem sie sich regelmäßig abarbeiteten. Mindestens jedes Jahr zu Weihnachten und dann auch zu allen Geburtstagen schrieben sie sich die Finger wund mit Glückwunschkarten in alle Himmelsrichtungen, manchmal auch noch zu Ostern. Und dann zählten sie stolz ihre zig Glückwunsch- und Grußkarten, die sie dann jeweils auch empfingen. Dabei hatten sie die meisten ihrer Freunde gerade erst bei den Klassen- und Semestertreffen gesehen, die seit ihrem Eintritt ins Rentenalter jährlich stattfanden. Wenn ich Geburtstag habe, dann gratulieren mir außer meiner Frau nur Flixbus und GMX. Ich glaube, es weiß auch sonst gar keiner, wann ich Geburtstag habe. Von meinen Bekannten kenne ich aber auch nicht ihre Geburtstage, und will sie auch eigentlich gar nicht wissen, weil ich nicht unbedingt allen ständig gratulieren möchte. Aber manchmal kann man eben doch sentimental werden, wenn man wieder ein Jahr älter geworden ist und keiner an einen gedacht hat. Vielleicht melde ich mich irgendwann doch noch bei Facebook an. Oder ich überspringe einfach diese Stufe und entwerfe mir in ein paar Jahren selbst einen Roboter-Freund mit künstlicher Intelligenz, genau nach meinem Geschmack und nach meinen Bedürfnissen.

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Mai 15th, 2017 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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