Ästhetik des Schreckens

Recht cineastisch, Teil 29: „Tiger Girl“ von Jakob Lass

Thomas Claer

Als Berliner lebt man bekanntlich gefährlich. Auf der Rolltreppe zur U-Bahn stehend kann man hinterrücks einen Fußtritt bekommen und sich beim Sturz nach vorne alle Knochen brechen. Man kann auch von jemandem auf die U-Bahn-Gleise geschubst werden, während man auf den Zug wartet. Oder einem wird von Unbekannten ohne Grund ins Gesicht geschlagen. Es ist schon beunruhigend, dass Leute herumlaufen, die einfach Spaß an der Gewalt gegen ihre Mitmenschen haben. Nun gibt es einen Film, der sich mit diesem Menschenschlag näher beschäftigt: „Tiger Girl“ von Jakob Lass. Natürlich ist das echtes Berliner Underground-Kino aus Neukölln, nur diesmal herausgebracht vom Branchen-Major Constantin Film, das auf die früheren Indie-Produktionen von Jakob Lass und seinen Mitstreitern aufmerksam geworden ist. Ein wilder, ein verstörender Film, der handwerklich außerordentlich gut gemacht ist: Alle Dialoge sind improvisiert, die Kameraführung verwegen.
Die Geschichte, die hier erzählt wird, kann einem allerdings kalte Schauer über den Rücken jagen: Margarethe Fischer, eine junge Dame um die 20, ist durch die Polizeiaufnahmeprüfung gefallen und absolviert nun eine Ausbildung bei einem privaten Security-Dienst. Anfangs ist sie noch höflich und zurückhaltend, bis sie auf eine andere junge Dame trifft, die sich Tiger Girl nennt und das komplette Gegenteil von ihr ist. Tiger Girl, die mit zwei Jungs abwechselnd illegal auf einem Dachboden und in einem stillgelegten Bus lebt, hilft Margarethe, die sie auf den Namen Vanilla tauft, durch imponierende Prügeleinlagen mit und ohne Baseballschläger mehrfach aus der Patsche und wird so zum Vorbild für diese – und zugleich zu ihrer besten Freundin. Nach und nach wird „Vanilla“ zu einem anderen Menschen, indem sie Tiger Girls programmatische Ratschläge beherzigt wie „Höflichkeit ist eine Art Gewalt. Gewalt gegen dich selbst.“ oder „Du musst einfach sagen, was du willst, und dann kriegst du’s auch.“ Schließlich marodieren die beiden pöbelnd, raubend und prügelnd durch die Straßen Berlins. Frei nach Schnauze suchen sie sich ihre Opfer aus. Sogar noch besser klappt es in geklauten Polizeiuniformen.
Das, um es zurückhaltend zu sagen, Irritierende an diesem Film ist dessen ausgestellte Sympathie für seine Protagonistinnen. Und, was nicht minder irritierend ist, auch eine ganze Reihe von Kritikerkollegen ist schier aus dem Häuschen: „Ein Film, nach dem man Lust hat, jemanden zu verprügeln“, befindet Juliane Liebert in der Süddeutschen Zeitung. Und sie führt weiter aus: „Gerade das ist toll an ‚Tiger Girl‘. Keine Moral. Keine Rettung. Dafür Frauen, die nicht in Willenlosigkeit vor sich hin wabern. Aber was heißt ‚Frauen‘: Jakob Lass zeigt selbstbewusst und eigenverantwortlich handelnde Menschen.“ Puh, das kann man nun aber wirklich nicht so stehen lassen. Wenn schon, dann zeigt dieser Film Menschen, konkret gesagt: Frauen, die sich in unverantwortlichster Weise gehen lassen, denen alle zivilisatorischen Sicherungen durchbrennen. Und es stecken fatale Botschaften in ihm, die seinen Machern wohl kaum bewusst gewesen sein dürften. Etwa die, dass der demokratische Rechtsstaat offenbar seine liebe Mühe hat, mit einem solchen Täter-Kaliber fertig zu werden, während solche Schlägerinnen z.B. unter Putin oder Erdogan ganz schnell und ohne viel Aufhebens auf Nimmerwiedersehen im Knast oder Arbeitslager verschwänden. Sind Filmemacher wie Jakob Lass also die nützlichen Idioten der autoritären Herrscher?
Natürlich nicht nur. Denn auf einer rein ästhetischen Ebene kann „Tiger Girl“ durchaus überzeugen. Hier wird eine Geschichte erzählt, so kann man es ja auch sehen, die auf alle Korrektheiten pfeift. So wie, sagen wir, „In Stahlgewittern“ von Ernst Jünger. Ästhetik des Schreckens nennt man so etwas. Ganz ohne Moral. Anhand dieses Films lässt sich also noch einmal über die große Frage nach der Autonomie der Kunst nachdenken.

Tiger Girl
D 2017
Länge: 90 Minuten
Regie: Jakob Lass
Drehbuch: Jakob Lass, Ines Schiller, Hannah Schopf, Nicholas Woche, Eva-Maria Reimer
Musik: Golo Schultz
Darsteller: Maria Dragus (Vanilla), Ella Rumpf (Tiger) u.v.a.
GSK: 16

Veröffentlicht von on Mai 22nd, 2017 und gespeichert unter DRUM HERUM, RECHT CINEASTISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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