Anmerkungen zum Kopftuch-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
Rüdiger Rath
Der zweite Senat des Bundesverfassungsgericht hat festgestellt (Beschl. v. 04.07.2017, Az. 2 BvR 1333/17), dass der Erlass des hessischen Justizministeriums (Erl. v. 28.06.2007 i. V. m. § 27 Abs. 1 S. 2 des Gesetzes über die juristische Ausbildung i. V. m. § 45 Hessisches Beamtengesetz) weiter gilt: Mit Kopftuch dürfen Rechtsreferendarinnen – jedenfalls im Bundesland Hessen – weder bei Verhandlungen im Gerichtssaal auf der Richterbank sitzen noch Sitzungsleitungen und Beweisaufnahmen durchführen, keine Sitzungsvertretungen für die Amtsanwaltschaft übernehmen und auch nicht während der Verwaltungsstation Anhörungsausschusssitzungen leiten.
Referendarinnen, so die Richter, dürften keine erkennbaren religiösen Bekleidungsregeln befolgen, wenn sie von Bürgern als Repräsentantinnen der Justiz oder des Staates wahrgenommen werden können. Dies sei zwar ein Eingriff in die von Art. 4 Abs. 1 und 2 Grundgesetz (GG) verbürgte individuelle Glaubensfreiheit, denn die Betroffenen müssten sich entscheiden, entweder die vorgesehene Tätigkeit während des Vorbereitungsdienstes auszuführen oder dem religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten. Daneben könne das Kopftuchverbot auch die persönliche Identität (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) und die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) berühren. Doch greife die hessische Regelung zeitlich wie örtlich nur begrenzt in die Grundrechte der beschwerdeführenden Referendarin ein. Sie werde lediglich von der Repräsentation der Justiz oder des Staates ausgeschlossen. Die weit überwiegenden Ausbildungsinhalte blieben ihr damit zugänglich. Der Staat dürfe weder in einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung Einfluss nehmen noch sich selbst ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben identifizieren. Das gelte insbesondere für den Bereich der Justiz. So hätten auch Rechtsreferendarinnen das staatliche Neutralitätsgebot zu beachten, das Einbringen religiöser und weltanschaulicher Bezüge könnte diese Neutralitätspflicht verletzen. Das gelte auch für ein islamisches Kopftuch als religiös konnotiertes Kleidungsstück. Ein solches werde als „äußeres Anzeichen religiöser Identität“ verstanden. Damit brauche es gerade keine besondere Kundgabeabsicht oder ein weiteres Verhalten, um als Bekenntnis einer religiösen Überzeugung verstanden zu werden. Darüber hinaus sei auch die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Prozessbeteiligten eines Gerichtsverfahrens zu berücksichtigen. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleiste die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. So sei es durchaus nachvollziehbar, wenn sich Parteien eines Rechtsstreits in diesem Grundrecht verletzt fühlten, wenn der Repräsentant des Staates die eigene religiöse Überzeugung erkennbar nach außen trage.
Soweit die Verfassungsrichter. Nun gehen die Meinungen auseinander: In einem freien Land solle doch jeder ein Kopftuch tragen können, wann und wo es ihm beliebt, sagen die einen. Und warum solle man seine Religiosität denn auch als Referendarin oder als Richter nicht offen zeigen dürfen? Dadurch werde man doch in seiner Rechtsprechung nicht befangen. Schließlich gäbe es ja auch genug Familienrichter, so Johan Schloemann in der Süddeutschen Zeitung, die selbst in einem Ehescheidungsverfahren einen Ehering trügen und dennoch unbefangen über die Ehe ihrer Streitparteien urteilten. Nein, sagen die anderen, der Staat müsse um Himmels willen weltanschaulich neutral bleiben und bitte alle insofern tendenziösen Symbole seiner Amtsträger zumindest während ihrer Amtsausübung verbannen. Wer hat recht?
Bei der juristischen Auslegung, hat Gustav Radbruch einmal gesagt, müsse man sich gewissermaßen dumm stellen, d.h. mitunter von vorgebrachten Voraussetzungen ausgehen, die erkennbar gar nicht zutreffen. So ist das Kopftuch heutzutage eigentlich weniger ein religiöses als vielmehr ein politisches Symbol. Immer mehr muslimische Frauen hierzulande, ja zunehmend auch schon minderjährige Mädchen, tragen Kopftücher und werden von (allerdings nicht nur männlichen) Mitgliedern ihrer Familie dazu angehalten. Aus der Religion heraus ergibt sich hierzu keinerlei Verpflichtung, sonst würden nicht Millionen muslimische Frauen barhäuptig herumlaufen. Im Koran bzw. seinen Begleitbüchern heißt es lediglich vage, dass Frauen ihre Reize verbergen sollten, was sich höchst unterschiedlich interpretieren lässt. (Warum ist eigentlich noch niemand auf die Idee gekommen, Frauen das Tragen von Sonnenbrillen vorzuschreiben, denn unzweifelhaft gehen doch besondere Reize von schönen Augen aus. Doch ausgerechnet die Augen bleiben selbst bei Burkaträgerinnen unbedeckt!) Noch vor ein paar Jahrzehnten wurden Kopftücher in muslimisch geprägten Ländern nur von der modisch rückständigen Landbevölkerung getragen, ganz ähnlich wie in Europa. Wer in größeren Städten lebte, kleidete sich modern, auch im Iran, in Marokko oder der Türkei, wie Fotos und Filmaufnahmen aus jener Zeit beweisen. Dann trat – spätestens mit der Machtergreifung der Mullahs in Iran 1979 – der politische Islam in die Geschichte ein – und mit ihm kam die große Bigotterie. Fortan griffen all jene zum Kopftuch oder zwangen es ihren weiblichen Mitmenschen auf, die sich irgendwie als Modernisierungsverlierer fühlten und ihren Ressentiments gegen eine freie und von der Gleichberechtigung der Geschlechter geprägte Gesellschaft Ausdruck verleihen wollten. Wer immer das unbestimmte Gefühl hatte, wirtschaftlich, bildungsmäßig oder kulturell mit dem liberalen Bürgertum nicht mithalten zu können und sich diskriminiert fühlte, der konnte sich wenigstens zu Hause noch als Pascha aufspielen, indem er Frau und Töchter unters Kopftuch zwang. Oder frau glaubte sich, wenn sie sich ohnmächtig fühlte, so doch wenigstens moralisch über ihre angeblich sittenlosen Geschlechtsgenossinnen erheben zu können. Die Religion ist hier lediglich der Deckmantel für den Ausdruck von Unzufriedenheit, Unglücklichsein, Verbitterung. (Ganz ähnliche religiös verbrämte Haltungen hat es z.B. auch im 19. Jahrhundert in Deutschland gegeben, Stichwort Pietismus; vgl. „Die fromme Helene“ von Wilhelm Busch.) Diese Mentalität ist übrigens eng verwandt mit jener der Trump- und AfD-Wähler, der Brexit- und Le Pen-Anhänger, die sich ebenfalls abgehängt und unverstanden fühlen. Und insofern ist all das in erster Linie ein Zeitgeistphänomen. Die Moderne in Verbindung mit der Globalisierung und Digitalisierung produziert zunehmend „Verlierer“ (oder jene, die befürchten, zu solchen werden zu können), die trotzig ihre Wut artikulieren. Und dies ist auch der eigentliche Hintergrund des Kopftuchtragens und Ramadan-Fastens schon unter Teenagern an Berliner Schulen. So ist das mit der „religiösen Überzeugung“…
Leider befinden wir uns mittlerweile schon in einem regelrechten Kulturkampf. Die „besorgten Bürger“, die sich am liebsten gegen alles Fremde, das ihnen nicht in den Kram passt, abschotten wollen, werten einen optisch präsenten Islam als Indiz für die Richtigkeit ihrer abstrusen Verschwörungstheorien, wonach unsere Bundesregierung von finsteren Mächten gelenkt sei, die eine „ethnische Umvolkung“ unseres Landes vorantreiben wollen. Sollte man hier nicht von staatlicher Seite konsequent aufklärerisch dagegenhalten und dafür sorgen, dass kopftuchtragende Referendarinnen und Richterinnen zur neuen Normalität werden? Vermutlich wäre das keine gute Idee, denn es hätte eine fatale Signalwirkung in Richtung des politischen Islam, der dies als Meilenstein in seinem Marsch durch die deutschen Institutionen betrachten würde. Vergessen wir nicht, worin die Aussage des weiblichen Kopftuchs als politisches Signal besteht: Diese Frau ist keine „westliche Schlampe“, die sich sexy zurechtmacht und selbstbewusst am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, sondern eine ehrbare und gehorsame Untergebene ihrer männlichen Familienmitglieder, die sich ihre „moralische Reinheit“ bewahrt hat. Solche archaischen Ehrvorstellungen sind übrigens keineswegs typisch muslimisch, sondern finden sich in vielen traditionellen Gesellschaften. Selbst hierzulande herrschte vor noch nicht einmal einem Jahrhundert eine ähnliche Mentalität. Es sei hier nur an den früheren § 1900 BGB erinnert, der eine finanzielle Entschädigung für Frauen vorsah, die nach Verlust ihre Jungfräulichkeit nicht geheiratet wurden…
Nun wenden manche muslimischen Kopftuchträgerinnen ein, dass sie mit Stolz ihre Haarpracht vor den männlichen Blicken verbergen und darin gar einen feministischen Akt sehen. Das ist ungefähr so plausibel, wie es das Hissen der Reichskriegsflagge angeblich ohne politische Absicht wäre mit der Begründung, dass einem einfach nur der Adler darauf so gut gefällt. Niemand, der sich in seiner Kleiderordnung womöglich an Saudi-Arabien oder Iran orientiert, kann behaupten, es gehe ihm gar nicht um die Unterstützung der dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse.
Insofern mussten sich die Verfassungsrichter tatsächlich „dumm stellen“, indem sie der Antragstellerin ihre vorgeblich unpolitische und rein religiöse Motivation zum Kopftuchtragen zunächst einmal abkauften, dann aber auf diesem Umweg zum (gesellschaftspolitisch) gewünschten Ergebnis kamen, dem politischen Islam keine neuen Machtsymbole wie kopftuchtragende Referendarinnen oder Richterinnen zu ermöglichen. Wohlgemerkt: Wie die Menschen sich im Alltag kleiden, ist ihre Privatsache und darf niemanden interessieren. Treten sie aber als Repräsentanten des Staates auf, dann haben sie optische weltanschauliche Statements zu unterlassen, noch dazu, wenn es sich in Wahrheit um fragwürdige politische Propaganda handelt. Falsch verstandene Toleranz ist es, der Intoleranz mit Toleranz begegnen zu wollen.