FDP-Chef Christian Lindner schildert uns seine „Schattenjahre“
Matthias Wiemers
Politikerbücher werden zumeist vor Wahlen veröffentlicht. Man will hiermit Werbung machen – und nicht zuletzt oft zur Wahl- und Parteienfinanzierung beitragen.
Christian Lindner wählt einen anderen Weg. Er hat nur vier Wochen nach dem grandiosen Wiedereinzug des politischen Liberalismus in den Deutschen Bundestag ein Buch vorgelegt, in dem erzählt wird, wie es der FDP und ihrem jetzigen Vorsitzenden gelungen ist, nach dem überraschenden erstmaligen Herausfallen aus dem Bundesparlament auf die nationale politische Bühne zurückzukehren.
In den neun Kapiteln finden wir eine Mischung aus Katastrophendarstellung, persönlicher (politischer) Entwicklungsgeschichte, Bekenntnissen zum Liberalismus und der Schilderung des Wiederaufstiegs zu einer Partei, an der bei der Regierungsbildung (derzeit) kein Weg vorbeiführt, nachdem sich die SPD nicht weiter im Rahmen einer Großen Koalition aufzehren lassen will.
Das erste Kapitel „Der Absturz“ schildert Vorgänge, an die sich die meisten Leser noch erinnern werden, so sie denn überhaupt öffentlich wurden. Daneben lernt der Leser, auf welche Akteure sich Lindner bei der Wiederherstellung einer aktionsfähigen Partei verlassen konnte, wer ihn von Anfang an unterstützte. Man kann auch sehen, welche Fehler die Partei vermutlich gemacht hat und wer innerhalb der Partei für das Versagen verantwortlich gemacht werden kann. Dabei kommt die tragische Gestalt Guido Westerwelle im Buch gut weg (S. 244 ff.), auch wenn deutlich wird, dass Lindner die Übernahme auch des Auswärtigen Amts – wie auch des Entwicklungshilfeministeriums als Fehler ansieht (S. 83 ff.).
Thema des ersten Kapitels ist auch die Frage, warum die FDP weiterexistieren sollte, die Lindner mit seiner persönlichen Biographie verknüpft (S. 38 f.) Als Quintessenz der Weltanschauung des politischen Liberalismus lässt sich ausmachen, dass Lindner von einem starken Menschen ausgeht, wobei Bildung und Angstfreiheit für ihn die wichtigsten Ressourcen für die Herausbildung dieses Menschen sind (S. 41).
Das zweite Kapitel schildert „Politische Anfänge“, wo Linder u. a. betont, sein Großvater habe eine Bäckerei betrieben (S. 51) – wie auch das Handwerk durchgängig immer wieder vorkommt (S.47, 164, 182 f., 254).
Ein initiales Erlebnis scheint die Lektüre der „Freiburger Thesen“ der FDP gewesen zu sein, die ihm sein Vater, ein Lehrer, gegeben habe (S. 53 ff.). Sympathisch ist ihrerseits Lindners Sympathie „für das Ethos der Arbeiterbewegung, das staatsfern und leistungsorientiert war“ (S. 57) (Lesetipp des Rezensenten: die zweibändigen Erinnerungen des langjährigen pr. Innenministers der Weimarer Republik Carl Severing – antiquarisch erhältlich).
Lindner wird schon als Schüler selbständig unternehmerisch tätig, kauft sich später vom selbstverdienten Geld einen gebrauchten Porsche (S. 60), wird überraschend 2000 in den Landtag NRW gewählt.
„Politik an der Spitze“ ist das dritte Kapitel überschrieben, wo geschildert wird, wie es zu Kandidatur und Wahl Christian Lindners zum Bundesvorsitzenden der FDP kam.
Kapitel vier „Selbstkritik und Selbstreflexion“ ist eher inhaltlichen Fragen gewidmet. Hier werden Kritik an politischen Vorstellungen zur Homogenität geübt (S. 117), die politische Relevanz von Religionen zurückgewiesen (S. 118), dem Verfassungspatriotismus zugesprochen (S. 119), Klimaschutzgesetze und das EEG und der umverteilende Wohlfahrstaat abgelehnt. Wähler der FDP sind nach Linder weniger an der Höhe ihres Haushaltseinkommens, denn an ihrem Bildungsgrad und ihrer optimistisch-fortschrittsorientierten Haltung zu erkennen (S. 134). Kein Wunder, dass dann Bildung zum dominierenden Thema der Partei wird.
„Scheitern und Siegen“, das fünfte Kapitel, ist noch mehr als einige andere von den Themen Mut und Gründerkultur gekennzeichnet, wo u. a. auch ein von Lindner angestoßener „Leitbildprozess“ zur Neuaufstellung der Partei geschildert wird. Das sechste Kapitel („Liberal, nicht autoritär“) widmet sich noch mehr dem liberalen Denken. Mit „Chancengerechtigkeit“ (S. 197) lässt sich dies sicherlich vereinbaren, nicht aber das leider auch in der FDP seit langem verbreitete Denken vom Bildungszentralismus (S. 197 ff.). Auch dass Lindner nicht ohne die vorsichtige Verwendung des Begriffs „soziale Gerechtigkeit“ auszukommen glaubt (S. 277, 284, 312), kann man hinnehmen, die Vorliebe für Studiengebühren als sinnvolle Elemente einer vernünftigen Ressourcensteuerung deutet der Autor aber nur ängstlich an (S. 199). Hier hätte man sich mehr Mut gewünscht. Lindner hebt, angesichts der aktuellen Entwicklungen in der Weltpolitik, hervor, dass Freiheit unteilbar sei (S. 217). Das ist liberal. Sauber erscheint auch sein Umgang mit Renegaten der AfD, die er – im Gegensatz zu einzelnen „Piraten“ – nicht in die FDP aufgenommen hat (219 f.). Sauber aber wohl in erster Linie aus Gründen der Machtpolitik.
Vorbildlich erscheinen auch die Ausführungen zur EU (S. 223 ff.). Hier wird – im Gegensatz zur innerstaatlichen Bildungspolitik – die Vielfalt und der Wettbewerb der Ideen gepriesen (S. 224) und für eine saubere Trennung der Kompetenzen zwischen EU und Mitgliedstaaten plädiert, garniert um Vorschläge der Zuordnung einzelner Kompetenzen, gegen die man schwerlich etwas einwenden kann (S. 226).
„Der Erfolg kehrt zurück“ (Kap. 7) und wird von Lindner geschildert in Bezug auf von der FDP gewonnene Landtagswahlen. In diesem Kapitel finden sich auch deutliche Worte zum „Sillicon-Valley-Kapitalismus“, der die Soziale Marktwirtschaft zu deformieren drohe (S. 254), und Lindner sieht Gefahren des totalitären Zugriffs auf den Einzelnen wie die Angriffe auf „kritische Infrastrukturen“ (S. 256).
Ein wichtiges Bekenntnis findet sich in Kapitel acht („In der Pflicht“), wo der Autor ausführt, aus Begabungen erwachse die „ethische Verpflichtung, die eigenen Potentiale im Interesse der Gesellschaft zur vollen Entfaltung zu bringen“ (S. 278), und den Staat als Schiedsrichter beim Wettbewerb um Chancen qualifiziert (S. 279). Hier taucht auch der Gedanke des liberalen Bürgergeldes nochmal auf (S. 280). „Die Kür“ ist das letzte Kapitel überschrieben, in dem u. a. die jüngste Zeit hin zum Wahlsieg geschildert wird und wo der Leser vielleicht die meisten Hinweise darauf finden mag, wie sich die FDP wohl aktuell in den Koalitionsverhandlungen verhalten mag.
Zur Flüchtlingskrise, die derzeit die Einigung bei den Sondierungsgesprächen zur Bildung einer neuen Bundesregierung zu hemmen scheint, äußert sich Lindner durch das gesamte Buch hindurch und spricht hier immer wieder von Staatsversagen (S. 43, 203 ff., 231 f.)
Auffällig ist Lindners Umgang mit den Theoretikern. Er nennt, fast im Sinne eines „name dropping“, Alexander Rüstow (S.42), Walter Eucken (S. 217 ) und Wilhelm Röpcke (S. 303), meidet aber den Namen Friedrich August von Hayek, obwohl er dessen Gedanken stellenweise deutlich verarbeitet (S. 310 f., 318 u. S). Auch der Begriff Neoliberalismus wird gemieden; Lindner spricht vielmehr einmal vom „neuen Liberalismus“ der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts (S. 42 f.).
Abgrenzung erfährt „die neokonservative Haltung, dass man die Märkte sich selbst überlassen kann“ (S. 45), wobei Lindner damit dem Neokonservatismus wohl nicht ganz gerecht wird.
Christian Lindner war und ist ein Glücksfall für die FDP. Er war insbesondere die letzten vier Jahre pausenlos für diese unterwegs – ausgehend von den Pflichten als Landes- und Bundesvorsitzender und den Polen Düsseldorf und Berlin (S. 181). Das Buch ist lesenswert nicht nur für Liberale, sondern zugleich für alle, die noch auf der Suche nach einer politischen Orientierung sind oder die wissen wollen, wie eine zurückgekehrte Partei im Wesentlichen „tickt“.
Christian Lindner, Schattenjahre. Die Rückkehr des politischen Liberalismus, erschienen bei Klett-Cotta, 338 S. 22 Euro
Seit letzter Nacht wissen wir, dass der Weg Christian Lindners und seiner erneuerten FDP vorerst nicht ins Licht der Regierungsverantwortung führen wird. Man fragt sich, ob Lindner und seinen Mitstreitern klar ist, was sie mit ihrem Scheiternlassen der Jamaika-Sondierungen bundes-, europa- und weltpolitisch angerichtet haben. In einer Zeit größter globaler Unsicherheit wäre Deutschland dringend als Anker politischer Stabilität gebraucht worden. Nun ist nicht absehbar, wie dieses Land künftig regiert werden kann. Es ist jetzt sogar fraglich geworden, ob sich die Kanzlerin noch weiter im Amt zu halten vermag. Es droht eine monatelange Phase der politischen Ungewissheit und Handlungsunfähigkeit, ja womöglich eine Staatskrise. Und das nur, weil diese kleine Partei ihre Eitelkeiten, Rechthabereien und taktischen Spielchen über die Interessen des ganzen Landes gestellt hat. Ihre erste große Bewährungsprobe haben Christian Lindner und seine neue FDP nicht bestanden.