Manfred Osten denkt nach über „Goethe und das Glück“
Thomas Claer
„Ja renn‘ nur nach dem Glück“, heißt es bei Bertolt Brecht im Lied von der „Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“, „doch renne nicht zu sehr. Denn alle rennen nach dem Glück, das Glück rennt hinterher.“ Vielleicht ist die Suche nach dem Glück sogar die Königsdisziplin der Lebenskunst. Denn auch wer womöglich schon alles im Leben erreicht hat, ist deshalb noch lange nicht glücklich. Und umgekehrt! Manfred Osten, Jahrgang 1938, promovierter Jurist, langjähriger Diplomat und als Generalsekretär a.D. der Alexander von Humboldt-Stiftung so etwas wie ein Universalgelehrter ersten Ranges, hat sich in seinem neuen kleinen, feinen Büchlein auf die Suche nach der universellen Glücksformel begeben und zum Gewährsmann bei diesem ambitionierten Unterfangen keinen Geringeren als Deutschlands Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) erwählt. Und da von Goethe neben seinen unerschöpflichen Werken auch noch unzählige sonstige Bekundungen – etwa in Briefen oder in Mitschriften seiner Gesprächspartner – überliefert sind, ja man kann wohl sagen: der Nachwelt kaum eine seiner Äußerungen von Belang verloren gegangen sein dürfte, war es für einen profunden Goethe-Kenner wie Manfred Osten selbstredend ein Leichtes, eine Menge einschlägiger Bemerkungen Goethes über das Glück im menschlichen Leben nicht nur zusammenzutragen, sondern auch gewissenhaft zu ordnen und aufschlussreich zu kommentieren.
Also, worin liegt es denn nun, das Geheimnis des Glücks? Kurz gesagt ist das Glücklichsein eine Kunst, die zwar dem einen mehr, dem anderen weniger in die Wiege gelegt sein mag, die sich aber doch von jedem erlernen und trainieren lässt (was nicht immer leicht ist!) und die darin besteht, die jeweils spezifischen eigenen Glücksquellen nach Kräften auszuschöpfen. Nicht weniger als 15 solcher Glücksquellen hat Osten, auf Goethe zurückgreifend, ausgemacht, etwa die ständige Achtsamkeit und Aufmerksamkeit für sich selbst, für seine Mitmenschen, aber auch für all die Dinge um sich herum. Ebenfalls große Bedeutung hat das Eigentum, allerdings gerade nicht das materielle, dessen Anhäufung nur kurzfristige Erfüllung mit sich bringt und stattdessen immer aufs Neue die unersättliche Gier anstachelt und so – im Gegenteil – zu einer Quelle des Unglücks werden kann (so wie es bei Goethes Anti-Helden Faust geschieht), sondern das immaterielle Eigentum nach Goethescher Lesart: „Ich weiß, daß mir nichts angehört,/ Als der Gedanke, der ungestört/ Aus meiner Seele will fließen, / Und jeder günstige Augenblick,/ Den mich ein liebendes Geschick/ Von Grundaus läßt genießen.“ Hier sind wir wohl an der Wurzel des Glücks: „Der verständige Mann muss sich nur mäßigen, so ist er auch glücklich“, heißt es im „Wilhelm Meister“. Es gilt also, die eigenen überschießenden Begierden unter Kontrolle zu bringen, sich selbst im Zaum zu halten, gewissermaßen zu kultivieren und zu zivilisieren. Und diese Begierden, noch besser, in produktive Bahnen zu lenken: Kaum etwas ist für die meisten Menschen beglückender, als selbst etwas zu erschaffen, schöpferisch tätig zu sein. Dass dies oft ein quälender Prozess ist, versteht sich von selbst. Manfred Osten spricht von der „Geburt des Glücks aus dem Geiste der Verzweiflung“, welche Goethe sogar als Pflicht bezeichnet hat, da nur ein völlig stumpfsinniger Mensch den Zustand der Welt und die eigene Rolle in ihr klaglos hinzunehmen imstande sei. Und überhaupt: „Unglück bildet den Menschen und zwingt ihn sich selber zu kennen.“
Doch ist nun einmal nicht jeder zum Dichter oder Künstler berufen. Vielleicht auch für all jene hat Goethe sich zu einer Bemerkung hinreißen lassen, in der er vorsichtig noch eine andere Art von beglückender Produktivität andeutet: „Ich werde mich hüten, deutlicher zu sein; aber ich weiß am besten, was mich im höchsten Alter jung erhält, und zwar im praktisch-productiven Sinne, worauf denn doch alles ankommt“, schrieb er an den Komponisten Zelter. Diese Stelle hat Manfred Osten wohlweislich nicht in sein Buch aufgenommen… Aber genug davon. Der Rezensent ist hier am Ende seiner Besprechung angelangt und kann sich, welch ein Glück, seiner nächsten Lektüre widmen.
Manfred Osten
„Gedenke zu leben! Wage es, glücklich zu sein!“ oder Goethe und das Glück
Wallstein Verlag 2017-12-07 120 Seiten; 18,00 Euro
ISBN-10: 3835330241