Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
wahrscheinlich gibt es kaum eine menschliche Eigenschaft, deren Vorhandensein so vieles im Leben so viel einfacher macht, und umgekehrt deren Mangel so oft zur entscheidenden Quelle des Misslingens wird wie die Geduld. „Alles kommt zum guten Ende für den, der warten kann“, wusste schon Lew Tolstoi. Aber genau hier liegt gewissermaßen der Hase im Pfeffer: Die meisten können nicht warten, wollen möglichst immer gleich alles, was ihnen gerade in den Sinn kommt, und zwar sofort, und deshalb geht bei ihnen immer wieder so vieles schief auf allen Ebenen. Zur viel zitierten Domestizierung und Zivilisierung der potentiellen Bestie Mensch gehört eben vor allem auch seine emotionale Disziplinierung. Denn schließlich beweist der berühmte Marshmallow-Test, dass diejenigen, die sich stets nur auf den Spatz in der Hand konzentrieren, selten so weit kommen wie jene, die stattdessen von der Taube auf dem Dach träumen.
Dabei ist die Kunst der Geduld den wenigsten in die Wiege gelegt. Von Natur aus ist wohl nahezu jeder ungeduldig, wenn er nicht gerade eine selten trübe Tasse oder eine regelrechte Schlaftablette ist. Aber wie überall sonst macht auch hier die Übung den Meister. Und das Beste ist, dass sich durch erlernte Geduld nicht nur die Erfolgsquote beinahe aller Unternehmungen signifikant steigern, sondern sich darüber hinaus auch noch die Lebensfreude beträchtlich verstärken lässt, indem man die Erfüllung der eigenen Wünsche immer weiter verzögert, verlangsamt und ausbremst. Dies scheint mir im übrigen auch der einzige (aber so gesehen keineswegs unbeträchtliche) Sinn des muslimischen Ramadans und aller ähnlichen zeitlich befristeten Fastereien zu sein: die Menschen zur Luststeigerung durch den Aufschub ihrer Begierden zu führen. (Auch die Institution der Ehe könnte ursprünglich unter anderem diesem Zweck gedient haben.) Wobei es aber natürlich kaum halb so viel wert ist, wenn jemand etwas nur aus traditioneller Pflichterfüllung tut, denn erst in der „Selbstgesetzgebung“ zeigt sich schließlich der freie Mensch als autonom handelndes Wesen.
Und doch kann man es, wie mit allem anderen, auch mit der Geduld übertreiben. Denn manche Gelegenheiten bieten sich nur kurzzeitig einmal – und dann nie wieder.
Dein Johannes