„Rechtswissenschaft in der Berliner Republik“

Ein neuer Sammelband des Suhrkamp-Verlags schließt an einen „Bonner“ Vorgängerband an

Matthias Wiemers

Wer sich einen aktuellen Überblick über die Rechtsentwicklungen der jüngsten Vergangenheit verschaffen will, kann heute nicht mehr einfach einen Jahrgang der NJW querlesen. Der Trend zur Auslagerung immer weiterer Spezialmaterien des Rechts in immer speziellere Zeitschriftenformate steht dem entgegen.
Umso erfreulicher ist es, dass sich unter Koordinierung der beiden Herausgeber Thomas Duve, Ordinarius für vergleichende Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main, und Stefan Ruppert, Privatdozent daselbst und seit vorigem Jahr Mitglied des Deutschen Bundestages, 24 weitere Vertreter der unterschiedlichsten Rechtsgebiete zusammengefunden haben, um diesen Gesamtüberblick auf rund 750 Seiten zu erbringen.
Nach einer vorzüglichen Einleitung durch die beiden Herausgeber setzt sich Stefan Ruppert mit dem Titel auseinander: „Die Berliner Republik – eine vorläufige Verortung“. Ist dies eine eher historisch-politische Übersicht, so wendet sich Thomas Duve im Folgenden der Rechtsgeschichte zu: „Ein fruchtbarer Gärungsprozess? Rechtsgeschichtswissenschaft in der Berliner Republik“. Von der Rechtsgeschichte führt uns Marietta Auer sogleich zur Rechtstheorie und sieht hier einen „postmodernen Pluralismus der Perspektiven“.
Thomas Pfeiffer handelt von Rechtsvergleichung und IPR und Gunnar Folke Schuppert, ein maßgeblicher Akteur der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“, berichtet über „Umdenken im Hause des Rechts – das Beispiel des öffentlichen Rechts in der Berliner Republik“.
Der Medienrechtlicher Thomas Hoeren berichtet von der Rechtswissenschaft der Berliner Republik im medialen Wandel, worin er konstatiert, der Justiz sei es schwer gefallen, sich vom „Leitbild der lästigen Öffentlichkeit zu befreien“. Für ihn spricht im Ergebnis „vieles dafür, dass die deutsche Rechtswissenschaft den Anschluss an die digitale Medienlandschaft noch lange nicht finden wird.“
Julian Krüper konstatiert für das Verfassungsrecht eine „Suche nach neuer Identität“. In der von ihm konstatierte Wiederbelebung der Verfassungstheorie und der Allgemeinen Staatslehre erblickt Krüper die „Wiederaufnahme einer Traditionslinie, die durch die Bonner Republik aufschiebend bedingt unterbrochen war und deren Wurzeln in den tiefgehenden wissenschaftlichen, soziokulturellen und wohl auch habituellen Auseinandersetzungen des Weimarer Methodenstreits zu suchen sind“. In diesem Sinne sei zwar Bonn nicht Weimar gewesen, Berlin sei es aber schon.
Stefan Magen referiert die Entwicklung der Verwaltungswissenschaften in der Berliner Republik. In dem von ihm konstatierten „neoliberalen Klima nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion“ sei es zu einer europarechtlich getriebenen Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik und des Wirtschaftsrechts an Marktfreiheiten und unverfälschtem Wettbewerb gekommen, „die sich nicht zuletzt in einer Ökonomisierung vieler Bereiche des Verwaltungsrechts“ niedergeschlagen habe.
In seinem Beitrag über die Sozialrechtswissenschaft stellt Alexander Fraser fest, sie habe „mit dem Wandel ihres Gegenstandes in den letzten 25 Jahren nur mühsam Schritt gehalten“ und ihn „zwar begleitet, manchmal auch immerhin rückblickend reflektiert, aber kaum maßgeblich beeinflusst, geschweige denn gestaltet.“
Frank Schorkopf referiert die Europa- und Völkerrechtswissenschaft in der Berliner Republik, wobei er u. a. die Zunahme der Bedeutung des Europarechts im Sinne eines „etablierten Teilgebiets der Rechtswissenschaft“ und im Völkerrecht das Völkerstrafrecht als die „Leitwissenschaft“ konstatiert. Berlin ist für ihn „doch ein Stück Bonn“, aber „mit starker moralischer Grundierung“.
Michael Kubiciel sieht die Strafrechtswissenschaft in der Berliner Republik „mit dem Rücken zur Wirklichkeit“. In diesem Beitrag wird u. a. die Zunahme der Gefährdungsdelikte und der Abschied vom Rechtsgüterschutz im Strafrecht betont. Der Beitrag wird ergänzt durch den Bericht von Rainer Hamm über das Strafprozessrecht.
Besonders gespannt sein konnte man nach der Lektüre von Schorkopf auf den Beitrag von Kai Ambos über das internationale Strafrecht, der dann in der Tat feststellt, das deutsche Völkerstrafrecht sei zum „Exportprodukt deutscher legislatorischer Wertarbeit“ geworden.
Anna Katharina Mangold referiert das Antidiskriminierungsrecht als eigenständigem Rechtsgebiet in der Berliner Republik – ein in der Tat neues Feld, das offenbar auch nach Meinung der Autorin aus der feministischen Rechtswissenschaft hervorgegangen ist.
Joachim Rückert, Lena Foljanty, Thomas Pierson und Ralf Steinecke setzen sich mit dem „Berliner Schuldrecht“ auseinander und werfen die Frage nach einer neuen Epoche auf, die sie letztlich nicht eindeutig beantworten.
Anne Röthel referiert die Familienrechtswissenschaft in der Berliner Republik, Jan Thiessen das Handels- und Gesellschaftsrecht und Tobias Tröger das Kapitalmarktrecht.
Gerd Bender stellt in seinem Beitrag über das Tarifrecht fest, dass der Staat in der Berliner Republik in einer fragmentierten Landschaft der Arbeitsnormenproduktion Schritt für Schritt in eine lohnpolitische Rolle eingerückt sei.
Da der Band das Ergebnis zweier in den Jahren 2012 und 2015 durchgeführten Konferenzen ist, ist es nachvollziehbar, dass er am Schluss eine Diskussion zwischen vier Rechtswissenschaftlern wiedergibt, die unter die Überschrift „Recht, Kultur und Gesellschaft im Prozeß der Globalisierung revisited“ gestellt ist. Zum vertieften Verständnis der in der vorherigen Einzelbeiträgen gewonnenen Erkenntnisse trägt die Diskussion jedoch nichts weiter bei.
Mit diesem Kompendium kommen die Autoren – auch wenn sie es so nicht schreiben – auch einer Einsicht entgegen, die ein „Volljurist“ heute gewinnen muss: dass nicht nur die NJW das gesamte Recht heute nicht mehr erfassen kann, sondern dass auch er selbst nicht davon ausgehen kann, mit zwei Staatsexamina, vielleicht vor langer Zeit abgelegt, auf der Höhe der Zeit bleiben kann. Um sich recht kurzfristig auf den Wissensstand nach einer intensiven Examensvorbereitung zu bringen, kann sich der Volljurist der Hilfe dieses ausgezeichneten Kompendiums bedienen. Aber auch zur aktuellen Examensvorbereitung namentlich zur mündlichen Prüfung kann es wärmstens empfohlen werden.

Rechtswissenschaft in der Berliner Republik, herausgegeben von Thomas Duve und Stefan Ruppert. Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2018, 766 S. 32 Euro (ISBN 9783518298305)

Veröffentlicht von on Mai 18th, 2018 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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