Rainer Zitelmann in seinem Buch „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“
Jochen Barte
Marx ist tot – und der Kapitalismus in Kürze auch. Das ist der durchaus überraschende Sound, der sich im Nachgang zu der Lektüre von Rainer Zitelmanns neuem Buch einstellt. Der Titel „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“ ist insofern mit Bedacht gewählt, denn in einer Zeit, die dem großen Systemfeind Marx anlässlich seines zweihundertsten Geburtstags bestenfalls antiquarisch huldigt, ist von den vormals wirkungsmächtigen sozialistischen Entwürfen des letzten Jahrhunderts nichts mehr übriggeblieben. Ganz im Gegenteil, kapitalistische Systeme, egal welcher Provenienz, erfreuen sich bester Gesundheit. Therapievorschläge zur Gesundung eines Schwerkranken scheinen daher fehl am Platz. Dennoch sind die globalen Probleme und Bedrohungen so groß wie eh und je.
Zitelmann betreibt daher Ursachenforschung. Zu diesem Zweck nimmt er den Leser mit auf eine Zeitreise durch fünf Kontinente. Von China aus geht es über Afrika nach Europa, Nord- und Südamerika und schließlich wieder zurück nach Europa, nach Schweden. Immer werden systemische Fallstudien dargestellt und analysiert, in denen sozialistische Gesellschaftsmodelle kapitalistischen Entwürfen in spezifisch ausgewählten Ländern gegenübergestellt werden. Der Ansatz des Buches ist damit zu einem Großteil historisch fundiert. Beispielsweise vergleicht Zitelmann die wirtschaftliche Entwicklung in den beiden deutschen Staaten der Nachkriegszeit und analysiert die Wirkung der wirtschaftlichen Reformen, die von Politikern wie Thatcher in England, Reagan in den USA, Deng in China oder auch Chavez in Venezuela durchgesetzt wurden.
Das Fazit, zu dem Zitelmann auf diesem Wege gelangt, kann daher letztlich auch nicht überraschen. Überall dort, wo sich die kapitalistischen Modelle durchgesetzt hätten, gehe es den Menschen heute wesentlich besser als früher. Dies liege insbesondere daran, dass der Kapitalismus – im Unterschied zum Sozialismus – keine Kopfgeburt von Intellektuellen sei, sondern im Kern aus entsprechenden Bedürfnislagen organisch hervorgegangen sei, sodass er die Grundbedürfnisse des Menschen weitaus besser erfüllen könne. Zudem liege dem Kapitalismus ein natürlicher Regulationsmechanismus zugrunde, der sich jeweils marktgerecht an Angebot und Nachfrage orientiere. Eines Eingreifens des Staates bedürfe es daher im Grunde nicht. Vielmehr seien die meisten Probleme der heutigen Zeit auf eine administrative Überregulierung und einen ineffizienten, überblähten Sozialapparat zurückzuführen. Insbesondere die vergangene Finanzkrise beruhe im Kern gleichfalls auf einer zu hohen nationalen und internationalen Regelungsdichte.
Diese Argumentation stammt aus dem 18. Jahrhundert. Denn so hatte sich der gute alte Adam Smith die Sache mit dem Kapitalismus prinzipiell vorgestellt. Wer an sich selbst denkt, hilft damit auch allen anderen. Weshalb neuzeitliche Adepten wie die Ökonomen Milton Friedman und Friedrich von Hayek, die Zitelmann immer wieder zitiert, in ihren Marktheorien stets bemüht waren, zu diesem klassischen Kern zurückzufinden. Aber genau darin liegt das Problem des Buches wie auch der Theorien der Neokapitalisten. Es wird ein freies Spiel gleicher Partner postuliert, das es faktisch zu keiner Zeit in der Geschichte gegeben hat. So sind die Bismarckschen Sozialreformen, die Deutschland immer noch prägen, nicht vom Himmel gefallen und aus den Biografien amerikanischer Urkapitalisten wie Vanderbilt, Carnegie und Rockefeller lassen sich auch ganz andere Lehren ziehen. Beispielsweise solche über die Bedingungen und Folgen von unregulierter Marktbeherrschung und die Bildung von Monopolen. Ein Problem, das gerade heute in Gestalt von Google und Facebook wieder an Brisanz gewinnt und wodurch die repressiven Tendenzen des Kapitalismus fast lehrbuchartig zum Vorschein kommen. In der Praxis entscheidet vielfach nicht der Kunde über das bessere Produkt, so wie Zitelmann es darstellt, sondern die Marktmacht der großen Unternehmen definiert den Preis und das Angebot von Waren und Dienstleistungen. Schaffung und Ausdifferenzierung von Märkten führen daher in einer Gesellschaft nicht zwangsläufig zu mehr Wohlstand und einem höheren Lebensstandard – und auch nicht zu mehr Freiheit. Hier liegt die Hauptursache der gegenwärtigen Krise der westlichen Demokratien. Insbesondere wird das „Phänomen Donald Trump“ vor diesem Hintergrund gerade erst verständlich: Trump ist kein alberner Betriebsunfall eines antiquierten Wahlsystems, sondern er ist die konsequente Folge eines dysfunktionalen angloamerikanischen Kapitalismus der Bildung, Vermögen und soziale Teilhabe oligopolisiert. Das ist der blinde Fleck im Denken Friedmans und seinesgleichen. Die sozialen Folgen einer Sakralisierung des Marktes werden ausgeblendet. Adornos Diktum von der Dialektik der Aufklärung gilt eben auch für kapitalistische Praktiken: Markttechnischer Fortschritt bei gleichzeitiger Brutalisierung der Systembedingungen bedeutet nicht zwingend ein Widerspruchsverhältnis. All jene, die in der schönen neuen Welt des globalisierten Finanzkapitalismus auf der untersten Ebene der Wertschöpfungskette stehen, können ein Lied davon singen. Aber die soziologisch-systemtheoretischen Analysen von Adorno, Foucault und Bourdieu passen zur reinen Lehre des Kapitalismus in etwa so wie ein Fuchs in einen Hühnerstall. Daher erscheint es auch nur konsequent, dass Zitelmann in seinem Buch Intellektuelle als tendenziell links wahrnimmt und ihnen sogar ein eigenes Kapitel widmet, um ihre soziale Physiognomie nachzuzeichnen – und zu dekuvrieren. Eine durchaus merkwürdige Idee, denn wer glaubt, die besseren Argumente zu haben, bedarf nicht des Rückgriffs auf zweifelhafte Spekulationen über Handlungsmotive von Journalisten und Intellektuellen. Aber stilistisch hapert es ohnehin zwischendrin: Tempuswahl und Einarbeitung der zitierten Passagen sind nicht durchgängig gelungen, wie auch die Auswahl des Quellenmaterials zu einseitig ausfällt. Kritische Autoren aus den USA und England wie beispielsweise George Packer (The Unwinding/Der Niedergang) und Owen Jones (The Establishment) fehlen. Gelegentlich gleiten Diktion und Tonfall ins Pathetische ab – ein verstörender Faktor bei einem Sachbuch von einem Autor mit wissenschaftlichem Background. Mehr Sorgfalt wäre insgesamt nötig gewesen.
Über die stilistischen Mängel könnte man noch hinwegsehen, da die historischen Fallstudien solide aufbereitet sind. In der Summe bleibt allerdings die große ungedeckte Flanke in Zitelmanns Buch: die Tatsache, dass der Autor zu den drängenden Problemen der Gegenwart letztlich schweigt. Mit der pauschalen Empfehlung, mehr Kapitalismus zu wagen und im Marktsinne zu deregulieren, wird man dem profitgetriebenen globalen Raubbau der ökologischen Lebensressourcen ebenso wenig Einhalt gebieten können wie dem Trend zur Prekarisierung und Ökonomiesierung aller gesellschaftlich relevanten Lebensverhältnisse in den westlichen Demokratien. Hier hätte es nach dem bekannten historischen Vorgeplänkel tatsächlich systemisch und theoretisch spannend werden können. Denn es zeichnen sich sehr deutlich globale Asymmetrien ab wie die Zunahme der Finanzwirtschaft im Vergleich zur Realwirtschaft auf das derzeitige Verhältnis von vier zu eins. Aber leider betreibt Zitelmann mit seinem Buch vor allem das, was er durchaus mit Recht an der sozialistisch-marxistischen Theorie kritisiert: die reduktionistische Ideologisierung einer Idee.
Dr. Dr. Rainer Zitelmann: Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung. 1. Auflage, Finanzbuchverlag: München 2018. Preis 24,99 Euro.