Wider den zerebralen Chauvinismus

In „Die Wurzeln der Welt“ präsentiert Emanuele Coccia eine „Philosophie der Pflanzen“

Thomas Claer

„Ach, was kümmern mich die Pflanzen?“ Wer so spricht, der weiß nicht, wovon er redet. Auch der Rezensent muss einräumen, in seinem bisherigen Leben der Pflanzenwelt eher mit Gleichgültigkeit begegnet zu sein. Doch es ist nie zu spät zur Umkehr. Wer „Die Wurzeln der Welt“ des französischen Philosophie-Professors Emanuele Coccia, Jahrgang 1976, gelesen hat, blickt gleichsam mit neuen Augen auf alles um sich herum. Dieses Buch ist nicht nur die Rehabilitierung der grünen Mitbewohner unseres Planeten für eine mehrere Jahrtausende währende Ignoranz durch den Menschen, sondern es eröffnet dem Leser zugleich auch einen völlig anderen Blick auf das große Ganze. Doch wirklich neu ist dieser Blick eigentlich gar nicht. Schon in der Antike, aber durchaus auch noch später gab es Anhänger einer „organischen“ Weltsicht, denen die moderne Aufspaltung aller Wissenschaften in immer detailliertere Unterdisziplinen zutiefst suspekt gewesen ist. (Ihr prominentester Vertreter war zweifellos Johann Wolfgang von Goethe.) Jedoch wurden sie allmählich, über die Jahrhunderte, verdrängt von den Fachidioten aller Disziplinen, denen es nur auf Spezialwissen und nicht mehr auf Welterkenntnis ankam.

Inzwischen befinden wir uns aber vermutlich bereits in einem Prozess der Kehrtwende. Man denke nur an den Boom der traditionellen asiatischen Medizin hierzulande, welche nicht die jeweiligen Krankheitssymptome, sondern stets den kranken Menschen als Ganzen vor Augen hat. Und diese ihrerseits beruht schließlich auf der antiken chinesischen Philosophie, die ebenfalls nie etwas anderes als ganzheitlich orientiert gewesen ist. Und wie der diesem Buch angehängte immense Apparat aus Fußnoten beweist, gibt es mittlerweile auch eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur (vor allem aus dem Überschneidungsbereich von Biologie und Philosophie), die emsig daran arbeitet, das ganzheitlich-organische Denken der unverbindlichen Esoterik zu entreißen und in die Fachwissenschaften zurückzuholen.

Es war klar, dass dieses Buch etwas taugen musste, wenn Koryphäen wie Denis Scheck (ARD) und Burkhard Müller (Süddeutsche Zeitung) es empfehlen. Doch es ist trotz seines schmalen Umfangs (der eigentliche Text besteht aus gerade einmal 150 Seiten) alles andere als leichte oder auch nur leicht verdauliche Kost. Es verlangt seinem Leser so einiges ab. Auch bei konzentrierter Lektüre bleiben immer wieder dunkle Stellen zurück, die sich dem Verständnis widersetzen. Doch das Entscheidende wird klar gesagt: Die Pflanzen sind die Grundlage allen Lebens. Ohne sie gäbe es uns Tiere nicht – und uns Menschen schon gar nicht. Keiner von uns könnte auch nur kurze Zeit ohne die Luft existieren, die allein die Pflanzen für uns bereitstellen. Es sind die Pflanzen, die mit der Photosynthese das Sonnenlicht für sich und alle anderen Lebewesen in Energie umzuwandeln verstehen. Durch unsere Atmung stehen wir in einem ständigen Austausch mit der Pflanzenwelt, ja wir sind mit ihr weitaus enger verbunden, als es uns vielleicht je bewusst geworden ist. Und nicht nur das: Die Pflanzen waren es, die erst für die Entstehung einer Atmosphäre gesorgt haben. Sie haben die Erde weitaus intensiver umgestaltet als alle Tierarten zusammen. (Und erst wir Menschen können sie heute, im Anthropozän, auf schreckliche Weise übertreffen, indem wir in unserer Hybris alle unsere Lebensgrundlagen vernichten.) Mit welcher Kraft sich die Wurzeln der Pflanzen in tiefste Schichten der Erde schieben, mit welcher Anmut sich ihre Blätter in den Lüften wiegen! Die Pflanzen verkörpern die denkbar intensivste Form der Weltaneignung. Und ihre Blüten und Samen, der Urtypus aller Sexualität, sind nichts anderes als pure Rationalität.

Schon als Jugendlicher hat mich bei der Lektüre von „Im Anfang war der Wasserstoff“ des unvergesslichen Pioniers des Wissenschaftsjournalismus Hoimar v. Ditfurth ein Satz nicht losgelassen: „Es gibt Verstand auch ohne Gehirne.“ Ditfurth konstatierte dies im Hinblick auf Strategien der Evolution. Emanuele Coccia sieht das genauso. Er zitiert sogar zustimmend einen Kollegen, der sich dem „zerebralen Chauvinismus“ widersetzt, wonach die Vernunft erst mit den Gehirnen in die Welt gekommen sei. Die Gehirne nehmen, so gesehen, nur etwas in sich auf, das womöglich bereits von Anfang an in der Welt vorhanden war. Für Coccia bedeutet Leben das Sich-Mischen mit der Welt. Jeder ist Teil der Welt und trägt weite Teile der Welt in seinem Inneren. Wer sich zunächst einmal für ein Individuum hält, hat wenig verstanden. Die Welt steht niemals still, sondern sie fließt in erster Linie. Wer lebt, taucht in die Welt ein (und die Welt in ihn). Es ist kein Zufall, dass uns zumeist jene Kunst am heftigsten ergreift, in die sich am tiefsten eintauchen lässt: die Musik.

Was folgt nun aber aus all dem?, fragt man sich abschließend. Eine ganze Menge. Wer etwa die Darwinsche Evolutionstheorie, wonach zufällige Mutationen und anschließende Selektionsprozesse die Haupttriebkräfte aller Entwicklung des Lebens auf der Erde gewesen sein sollen, schon immer für sehr unplausibel gehalten hat, kann sich bestätigt sehen. Es sind wohl in der Tat ganz andere Kräfte am Werk. Doch genau hier liegt das Problem. Leider haben wir noch keine nüchterne, sachliche Sprache für diese Dinge. Diese zu erahnen, blieb lange Zeit nur Metaphysikern und Literaten vorbehalten. Und auch Coccias fulminantes Buch ist wohl nur als einer der ersten fachwissenschaftlichen Versuche anzusehen, denn es steht ganz sicher bei der übergroßen Mehrzahl seiner Kollegen längst unter stärkstem Esoterikverdacht…

Als letztes noch eine kleine Anekdote: Als ich vor Jahren mit einem Nachhilfeschüler aus der Oberstufe während der Sommerferien u.a. Goethes „Faust“ las (seine Mutter bezahlte mich dafür, ihren Sohn dreimal wöchentlich auf lehrreiche Weise zu bespaßen, da er ansonsten ohnehin nur Blödsinn triebe), zeigte sich mein Schüler vom Handlungsverlauf des Dramas tief enttäuscht. „Mephisto sollte Faust doch zeigen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber was hat er ihm stattdessen gezeigt? Doch nur die erotische Liebe.“ Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen… „Vielleicht ist es das ja gerade?“, gab ich zu bedenken. Doch überzeugte dies meinen Schüler keineswegs: „Also das kann es ja wohl nicht sein.“ „Vielleicht ja doch“, bleib ich hartnäckig. Ein weiterer Anwärter auf jene Urkraft-Rolle ist nun Coccias Durchmischungs- und Eintauch-Prinzip.

Emanuele Coccia
Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen
Hanser Verlag München, 3. Auflage 2018
188 Seiten; 20,00 Euro
ISBN 978-3-446-25834-1

Veröffentlicht von on Jun 11th, 2018 und gespeichert unter DR. CLAER EMPFIEHLT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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