Der blinde Fleck im Verwaltungsrecht

„Gegen die Nichteinhaltung von Vorschriften kann man nicht klagen“ – Behörden verweigern die Wahrnehmung ihrer Aufsichtspflicht

Benedikt Vallendar

Es ist schon grotesk: Wenn Bürger sich weigern, den ihnen laut Verwaltungs- oder Sozialrecht obliegenden Pflichten nachzukommen, drohen ihnen empfindliche Konsequenzen seitens der Behörden. Wenn aber die Behörden selbst kein Interesse an der Durchsetzung einer Vorschrift haben, kann kein Bürger sie zum Tätigwerden zwingen, dem nicht ein individueller Anspruch auf eine Entscheidung der Behörde zusteht. Denn eine Untätigkeitsklage gegenüber Behörden kommt nur dann in Betracht, wenn eine solche Entscheidung, auf die ein Anspruch besteht, nicht in angemessener Frist ergeht. Mangelt es an einem solchen Anspruch des Einzelnen, ist vielmehr „nur“ eine generelle Tätigkeit der Behörde in Hinblick auf die Herstellung gesetzmäßiger Zustände gefordert, so gibt es kein individuelles Klagerecht. „Ich bin ständig damit beschäftigt, Behörden zu ermahnen, ihre Arbeit zu tun“, beklagt etwa der Hamburger Rechtsanwalt Oliver Frentz. „Es ist dem Bürger schwer zu vermitteln, dass der Staat offenbar in einigen eindeutig ihm obliegenden Bereichen einfach nicht mehr tätig sein möchte“.

Genau dies erfuhr ein im Kassensystem niedergelassener Psychologe aus Schleswig-Holstein, den Frentz vertritt. Der wollte sich lediglich dagegen wehren, dass er von seinen Medizinerkollegen regelmäßig ein für die Kassenpsychotherapie vorgeschriebenes Formular mit der Bezeichnung „Konsiliarbericht“ falsch ausgefüllt zurück erhielt. Obwohl der Bezeichnungsbestandteil „Konsiliar-„ in der Medizinersprache nahelegt, dass der ausfüllenden Mediziner eine beratende („konsiliarische“) Funktion gegenüber dem Psychologen einzunehmen habe und obwohl in SGB V (§ 28 Abs. 3 Satz 3) eindeutig geregelt ist, dass dieses Formular der Übermittlung des körperlichen Befundes vom Mediziner an den Psychologen dienen soll, benennen ca. 70 % der Ärzte bundesweit dort den psychischen Befund. Das ergab eine Recherche des betroffenen Psychologen in der medizinischen Profi-Plattform coliquio. Offenbar glauben die Mediziner, das Formular diene nicht der kollegialen Übermittlung derjenigen Befunde, die der Psychologe berufsgruppenspezifisch nicht selbst erheben kann (d. h. eben der körperlichen), sondern einer Art Verordnung von Psychotherapie, die es seit 1998 (Psychotherapeutengesetz) aber nicht mehr gibt. Es ist grotesk, ihm angesichts dessen die Indikationen für die Aufnahme einer Psychotherapie und die psychischen Beschwerden mitzuteilen seien, als sei er nicht selbst dazu in der Lage, diese zu erheben.

Als dann ein Hausarzt sich auf Nachfrage sogar weigerte, dem Psychologen die bei ihrer gemeinsamen Patientin zweifellos vorhandenen körperlichen Befunde mitzuteilen – mit der Begründung, diese „gingen den Psychologen doch gar nichts an“, da platzte diesem der Kragen und er beschwerte sich über das Medizinerverhalten bei seiner Kassenärztlichen Vereinigung, einer öffentlich-rechtlichen Institution, die vom Staat immerhin mit behördenähnlichen Verwaltungsfunktionen betraut ist. Doch die Reaktion ließ auf sich warten – bis heute. Auf eine Anfrage vom März 2016 erhielt er niemals eine Antwort und auf eine zweite Eingabe vom September dieses Jahres erhielt sein Anwalt noch nicht einmal eine Eingangsbestätigung. Das gleiche aber gilt für das Bundesministerium für Gesundheit, wohin der Psychologe sich schließlich wandte: auch dort antwortete man im Jahr 2016 weder ihm noch zwei Jahre später seinem Rechtsanwalt. Dabei ist das Bundesministerium für die Durchsetzung dieser bundeseinheitlichen Rechtsnorm zuständig. An der Durchsetzung der Vorschriften aus §28 SGB V ist man offenbar nur insoweit interessiert, als der „Schwarze Peter“ beim Psychologen liegt, der den körperlichen Befund einzuholen weiterhin gezwungen ist, aber nicht was die Seite der Ärzte betrifft, die sich ungeniert weigern können, diesen ihren psychologischen Kollegen zu übermitteln.

Dabei ist die Lage sozial- und haftungsrechtlich durchaus brisant. Denn die Kenntnis des körperlichen Befundes kann nicht nur entscheidend sein bei der Mitbehandlung einer psychisch verursachten, also psychosomatischen körperlichen Störung, bei der Abgrenzung von körperlichen Anteilen und nur körperlich wirkenden psychischen Symptomen (einem so genannten somatoformen Syndrom) und beim Ausschluss körperlicher Ursachen für psychische Symptome (beispielsweise aufgrund von Schilddrüsenerkrankungen, die häufig Depressionen fördern). In seltenen Fällen können bestimmte psychologische Maßnahmen für körperlich stark belastete Personen sogar Gesundheitsrisiken aufweisen, etwa wenn der Psychologe mit seinem Patienten einen Turm besteigt, um Höhenangst zu bekämpfen. Kennt er dann den Befund einer Herzerkrankung nicht, handelt er gegebenenfalls bei einem durch den Stress ausgelösten Herzinfarkt fahrlässig. Wer aber ist dann für den entstandenen Schaden oder die mangelhafte Behandlungsqualität in Folge der Unkenntnis der körperlichen Befunde verantwortlich? Im Zweifelsfall der Psychologe, in dessen Zuständigkeit es liegt, den körperlichen Befund vor Beginn der Behandlung zu kennen.

Den aber kennen die psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten – wie gesagt – in rund 70% der Fälle nicht, wobei auch nicht jede Patientin auch einen körperlichen Befund hat, der mitgeteilt werden könnte. Unterm Strich heißt dies: Rund die Hälfte der in Deutschland von Psychologen durchgeführten psychotherapeutischen Behandlungen entspricht nicht dem gesetzlich vorgeschriebenen Standard – aber das interessiert weder die zuständigen Standesvertretungen der Ärzte und Psychotherapeuten noch die Aufsichtsbehörden, weder die von den Krankenkassen bestellten Gutachterinnen und Gutachter noch offenbar die meisten Psychologinnen und Psychologen selbst. Was das Bundesministerium für Gesundheit dazu treibt, politische Inszenierungen („Terminservicestelle“, „Mindestarbeitszeit für niedergelassene Ärzte“) wichtiger zu nehmen, als den sorgsam durchdachten Willen des Gesetzgebers durchzusetzen, sei dahingestellt. Die ärztlichen Standesvertreter jedenfalls scheinen ohnehin der Meinung zu sein, dass Ärzte gegenüber einer anderen Fachdisziplin, wie den Psychologen, nicht auskunftspflichtig sein könnten und kümmern sich nicht um die fehlende Befundermittlung, die ja nur den Patienten schadet, nicht dem Image der Ärzte. Und die Psychologenverbände müssen einräumen, dass viele ihrer Kolleginnen und Kollegen am körperlichen Befund selbst oft gar nicht interessiert sind und sogar froh sind, wenn ihnen der Arzt statt dessen die Arbeit abnimmt, den psychischen Befund selbst zu erheben, was laut Gesetztext und Kommentaren explizit ihre eigene Aufgabe wäre. So sonnen sich denn alle im Glanz kaum umgesetzter gesetzlicher Vorgaben und fühlen sich obendrein noch ganz gut dabei.

Veröffentlicht von on Dez 17th, 2018 und gespeichert unter DRUM HERUM, SONSTIGES. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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