Trendbücher (1): „4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt“ von Dirk Baecker
Thomas Claer
Stehen wir gerade erst an der Schwelle zur digitalen Gesellschaft oder sind wir womöglich schon mittendrin? Wie auch immer, für eine fundierte sozialwissenschaftliche Theorie dieser „nächsten Gesellschaft“ sei es noch zu früh, meint der ebenso renommierte wie umtriebige Soziologe Dirk Baecker in seinem neuen Büchlein „4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt“. Er belässt es daher, wie er es ausdrückt, bei „Probebohrungen“ – und hat dann doch eine erhebliche Menge genauer Beobachtungen und tiefgründiger Überlegungen zur Thematik zusammengetragen.16 Thesen über die Zukunftsfähigkeit der nächsten Gesellschaft hatte der 1955 in Karlsruhe geborene Luhmann-Schüler und Professor für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke bereits 2011 aufgestellt. Mittlerweile sind daraus 26 geworden, und nun diskutiert und erläutert er sie ausführlich in einem (nur äußerlich) schlichten kleinen Bändchen aus dem rührigen Merve-Verlag.
Wofür aber, so fragt man sich, steht wohl die ominöse „4.0“ im Buchtitel? Laut Baecker sind es ganz maßgeblich die jeweils genutzten Medien, die einer Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken. Drei solcher Medien-Epochen lägen historisch bereits hinter uns, die vierte beginne gerade vor unseren Augen. Baecker unterscheidet zwischen der tribalen, antiken und modernen Gesellschaft – mit den ihnen entsprechenden Medien-Epochen der Mündlichkeit (1.0), der Schriftlichkeit (2.0) und des Buchdrucks (3.0) – und der gerade heraufziehenden „nächsten“ Gesellschaft mit dem Leit-Medium der digitalen Netzwerke.
Jede seiner 26 Thesen widmet sich einem Thema oder Lebensbereich und den in diesem jeweils bestehenden Unterschieden zwischen den genannten vier Gesellschaftsepochen. Besonders aufschlussreich ist eine am Ende des Buches platzierte „tabellarische Übersicht“, die diese Unterschiede auf markante Stichworte verkürzt. Der neugierige Leser wird diese Tabelle natürlich nicht erst am Ende, sondern gleich am Anfang seiner Lektüre studieren. So liest man z.B. zum Thema Strukturform die Stichworte: Stamm (Tribale G.) –> Schicht (Antike G.) –> Funktionssysteme (Moderne G.) –> Netzwerke (nächste G.). Bei Konsum heißt es: Reziprozität (Tribale G.) –> Tugend (Antike G.) –> Konformität (Moderne G.) –> Stil (nächste G.). Zum Thema Recht steht dort übrigens: Gebote und Verbote (Tribale G.) –> Kodex (Antike G.) –> positives Recht (Moderne G.) –> Immunsystem (nächste G.). Bezüglich der Liebe heißt es: Gelegenheit (Tribale G.) –> Begehren (Antike G.) –> Leidenschaft (Moderne G.) –> Rücksicht (nächste G.). Und zum Stichwort Vertrauen steht dort: Magie (Tribale G.) –> Götter (Antike G.) –> Technik (Moderne G.) –> Design (nächste G.)…
Das alles klingt schon reichlich spannend und vielversprechend, doch stellt sich beim anschließenden Lesen der ausformulierten Kapitel des Buches eine gewisse Ernüchterung ein. Als Nicht-Soziologe versteht man leider längst nicht alles, aber doch genug, um eine Ahnung von den großen Verwerfungen zu bekommen, welche die digitale Neuformatierung unserer Gesellschaft mit sich bringen wird. Und manches kennt man ja bereits allzu gut aus eigenem Erleben: „Die Menschen werden derweil immer ungeduldiger. Sie erwarten die blitzartige Schnelligkeit digitaler Verbindungen auch von jeder anderen Materie, mit der sie es zu tun haben. Das immerhin war in der Moderne noch anders, von der Antike zu schweigen. Hier war es nicht der momenthafte Zerfall, sondern die Verfügbarkeit von Leerzeiten, die jeglicher Synchronisation von Körper, Geist und Gesellschaft zugrunde lag. Man konnte warten, bis das eine zum anderen kam. Für dieses Warten geht jeder Sinn verloren.“ (S.85) Im Kapitel über die Liebe heißt es im Hinblick auf die elektronischen Medien: „Jetzt ist der andere nahezu jederzeit woanders. Einerseits. Andererseits kann er jederzeit auf den Displays dieser Welt in meiner Welt auftauchen“ (S.164). Und: „Die Netzwerke verknüpfen Elemente weder kausal noch zufällig, sondern gemäß einer von den Elementen selbst zu entscheidenden Attraktivität der Nachbarschaft.“ (S.62) „Das Netzwerkereignis schlechthin ist ein Kontakt von mir, Person A, zu Person B, die dank meines Netzwerks Person C kennenlernt, die für sie interessanter ist, als ich es bin. Dann bin ich draußen. Jede Vernetzung enthält präzise dieses Risiko, dem ich nur durch eine Arbeit an meiner Identität im Spiegel des Netzwerks, das ich bewusst oder unbewusst nicht verlieren möchte, etwas entgegensetzen kann. Privat ist derjenige, der dies nicht nötig zu haben glaubt.“ (S.205f.)
Düster fällt Baeckers Ausblick auf die Politik einer künftigen Gesellschaft aus: „Politik ist die Verfügung nicht mehr über den Ausnahmezustand (Carl Schmitt), sondern über digitale Plattformen…(S.99) Und zum (neuen) Wutbürgertum führt er aus: „Nur die Moderne unterschätzt eine auch politische Geometrie der Gefühle, wie sie von Aristoteles in seiner „Rhetorik“ so präzise beschrieben wurde wie von Baruch Spinoza in seiner „Ethik“ … Die Politik der nächsten Gesellschaft kann es sich nicht mehr leisten, die Dynamik der Affekte zu vernachlässigen.“ (S. 103) Im Kapitel über die Wirtschaft einer künftigen Gesellschaft befindet er: „Das Kalkül einer zwar unbekannten, aber möglichen Zukunft bietet im Spiegel der Datenmengen, die über heterogene Sachverhalte heute abrufbar sind, Kapitalisierungschancen, die keinen Stein auf dem anderen lassen.“ (S.113) Und über das Recht heißt es, es rücke gegenwärtig „in eine Netzwerkfunktion ein, die der Struktur der tribalen Gesellschaft mehr ähnelt als der der modernen Gesellschaft.“ (S.190) Und überhaupt: „In der nächsten Gesellschaft sucht das Recht den Konflikt nicht mehr nur in der Moral, im Gesetz oder im Argument, sondern im Datum und seiner Verknüpfung.“ (S.186) „Das Recht wird zu einem System der Datenhygiene. Man verhält sich so, dass belastende Daten gar nicht erst entstehen…“ (S.191)
Wenig ermutigend, wenn auch sehr erhellend, liest sich insofern das brillante Niklas Luhmann-Zitat: „Freiheit ist das Ergebnis der Fiktion, dass es sie gibt.“
Dirk Baecker
Die Lücke die der Rechner lässt
Merve Verlag Leipzig 2018
272 Euro, 22 Euro
ISBN-10: 3962730125