Kaugummi

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

während meiner Kindheit im Osten in den Siebziger- und Achtzigerjahren hatte ich gewissermaßen ein geheimes Stück Westen in meinem Kinderzimmer: einen Schrank, an dessen Innentür alle meine Fußballaufkleber von West-Vereinen klebten, und in dem meine Vorräte an West-Schokolade und sonstigen Süßigkeiten lagen, die natürlich allesamt aus West-Paketen stammten. Einmal hatte ich eine große Packung Kaugummi bekommen, von der ein wahrhaft betörender Duft ausging. So süßlich nach Chemie. Bald roch der ganze Schrank danach. Wenn ich ihn öffnete, entwich eine berauschende Wolke West-Geruch in mein tristes Ost-Zimmer. Insbesondere diese Packung West-Kaugummi war also eine einzige Verlockung für mich. Und so kam es wohl, dass ich mich einfach nicht dazu durchringen konnte, sie zu öffnen und von den Kaugummis zu probieren. Sie waren einfach zu schade dazu, so einfach aufgegessen bzw. gekaut zu werden. Nein, dieses ultimative Vergnügen, die Packung zu öffnen und die bunten Kugeln ihrem bestimmungsmäßigen finalen Gebrauch zuzuführen, wollte ich noch so lange wie möglich vor mir haben. Also verblieben die Kaugummis noch für geraume Zeit in meinem Schrank und sorgten dort für eine langanhaltende olfaktorische Reizüberflutung.

Erst nach vielen, vielen Monaten, womöglich sogar erst nach mehreren Jahren, so genau kann ich es heute nicht mehr sagen, bemerkte ich irgendwann, dass der von den Kaugummis ausgehende Geruch sich bedeutend abgeschwächt hatte. Da beschloss ich, dass nun der große Moment gekommen sein sollte, die Packung zu öffnen und genüsslich von den bunten Kugeln zu probieren. Doch zu meiner Enttäuschung musste ich feststellen, dass im Laufe der Zeit nicht nur ihr Duft nachgelassen, sondern auch ihre Konsistenz sich verändert hatte. Schon als ich die erste Kugel zwischen meinen Fingern hielt, fühlte sie sich so hart und fest an wie ein Stein. Und auch im Mund war da nicht mehr viel zu machen… So kam es, dass ich meine West-Kaugummis, meinen so lange gehüteten Schatz, am Ende sang und klanglos entsorgen musste.

Meine Eltern reagierten darauf mit Vorwürfen und Kopfschütteln, besonders mein Vater. Dabei war er es doch, der mich schon früh zu Selbstdisziplin und Genussverzögerung erzogen hatte. Aber die schönen West-Kaugummis so einfach schlecht werden zu lassen, das ging ihm nun völlig gegen den Strich. Merkwürdigerweise hielt sich aber meine eigene Enttäuschung über dieses Missgeschick in Grenzen. Ich dachte zurück an die vielen schönen Stunden, die mir die Kaugummis mit ihrem Duft bereitet hatten. Und mit der Vorfreude auf den Moment des Genusses, der nun bedauerlicherweise ausgefallen war. Doch irgendetwas in mir sagte: „Na und? Das war es mir wert.“ Ja, manchmal ist ganz einfach der Weg das Ziel. Und es gibt auch nicht immer nur die eine, glücklich machende Bestimmung für die Verwendung einer Packung Kaugummi oder wovon auch immer. Dennoch ist es zweifellos noch schöner, wenn es bei aller Freude an der Erwartung auch glingt, den Moment der Erfüllung nicht zu verpassen. Denn der perfekte Genuss besteht aus beidem: aus Vorfreude plus Erfüllung.

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Feb 18th, 2019 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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