Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
die einzigen von mir jemals besuchten sportlichen Großveranstaltungen waren immer nur Fußballspiele. Mit einer Ausnahme: Es muss wohl im Frühling 1986 gewesen sein, vor 33 Jahren also. Ich war 14. Meine damalige Schulklasse absolvierte ihre Jugendweihefahrt nach Berlin. Nur in den Ostteil der Stadt, versteht sich. An anderes war zu jener Zeit natürlich nicht zu denken. Die westliche Hälfte dieser Stadt war für uns damals nur ein unerreichbarer grauer Fleck auf der Landkarte mit dicker roter Umrandung.
Wahrscheinlich fuhren sehr viele Jugendliche meines Jahrgangs aus der ganzen DDR in diesen Tagen ebenfalls nach Berlin, denn zu meiner Überraschung traf ich dort in der „Komischen Oper“ (oder war es in der „Staatsoper unter den Linden“?) während der Aufführung der nervigen Operette „Im weißen Rössl“ meine frühere Schulklasse aus Wismar, die genau wie wir diese etwas dämliche Operettenaufführung besuchte. Außerdem fuhren wir mit dem Fahrstuhl auf den Fernsehturm und waren vielleicht noch in einem Museum oder einer Galerie – so genau kann ich es heute nicht mehr sagen. Ganz genau hingegen weiß ich noch, was der Höhepunkt unserer Jugendweihefahrt sein sollte – und es dann ja schließlich auch wurde, wenn auch etwas anders als gedacht: ein echtes Eishockeyspiel.
Eishockey, das muss man wissen, war seinerzeit im Osten eine Art Luxus-Sport, sündhaft teuer in der Betreibung. Genau zwei Eishockey-Clubs gab es in der DDR: Dynamo Berlin und Dynamo Weißwasser. Beide bildeten zugleich die DDR-Eishockey-Oberliga, indem sie fortwährend nur in Hin- und Rückspielen gegeneinander antraten. Beide Teams kannten einander also sehr genau in ihren jeweiligen Stärken und Schwächen. Das sportliche Niveau war dabei durchaus beachtlich. Der DDR-Eishockey-Nationalmannschaft, die natürlich nur aus Spielern der beiden genannten Clubs bestand, gelang es sogar einige Male, die Bundesrepublik in Welt- und Europameisterschaften zu besiegen. Dennoch muss es für die Zuschauer der DDR-Eishockey-Oberligaspiele sehr ermüdend gewesen sein, immer nur die gleiche Begegnung der beiden Dynamo-Teams in endloser Wiederholungsschleife ansehen zu müssen. Da war es schon eine relativ große Sache, wenn während der Saisonvorbereitung mal eine ausländische Mannschaft zum Freundschaftsspiel anreiste. Und genau dies geschah, wie es der Zufall wollte, gerade, als wir uns in Berlin aufhielten. Der SC Dynamo Berlin spielte gegen einen tschechischen Zweitligisten mit unaussprechlichem Namen, den ich mir schon damals nicht merken konnte. Klar, dass mein sportbegeisterter Klassenlehrer einen Besuch im Eisstadion für uns fest eingeplant hatte.
Während ich diesem Spiel regelrecht entgegenfieberte, zeigten meine Mitschüler im Vorfeld allerdings nur wenig Interesse am Eishockey. Immer wieder maulten einige von ihnen, verdrehten ihre Augen und fragten unseren Lehrer, ob sie denn wirklich unbedingt ins Eisstadion mitkommen müssten. Das ging so lange, bis unser Klassenlehrer verärgert erklärte, wer nicht mit zum Eishockey wolle, könne auch gerne alleine in der Pension bleiben. „Selber schuld, wer nicht mitkommt!“ Doch was dann geschah, kam für alle überraschend. Nur unser Lehrer, die beiden mitreisenden Schülereltern, zwei meiner Mitschüler und ich fanden sich am Treffpunkt ein, als es ins Eisstadion gehen sollte. Und während wir zu sechst das Eishockey-Spiel besuchten, hatten die restlichen 24 Schülerinnen und Schüler unserer Klasse einen Abend mit „sturmfreier Bude“ in der Pension, wo es dann auch dementsprechend hoch hergegangen sein soll…
Der Besuch im Eisstadion machte mir großen Spaß. Der tschechische Zweitligist mit dem unaussprechlichen Namen war dann doch kein ebenbürtiger Gegner für die Dynamos. Am Ende gab es ein torreiches 7:3 für die Berliner. Besonders gefielen mir auch die bunten Fankostüme und die unermüdlichen Sprechchöre wie „Ran an die Buletten!“ Erst lange nach Spielende, als wir wieder in der Pension waren und den aufgeregten Schilderungen meiner Mitschüler lauschten, wurde mir langsam klar, dass ich durch meinen Besuch im Eisstadion womöglich etwas noch viel Aufregenderes verpasst hatte. Von einer Pyjama-Party in den Räumen unserer Mädchen war die Rede und von ganz außergewöhnlichen Dingen, die dort angeblich passiert sein sollten…
Am nächsten Tag saßen wir schon wieder im Bus, der uns nach Hause bringen sollte, als unser Klassenlehrer mit wütendem Gesicht das Wort an uns richtete. Was denn am gestrigen Abend vorgegangen sei, fragte er streng. Niemand gab ihm eine Antwort. Viele meiner Mitschüler grinsten nur in sich hinein. Dann holte unser Lehrer einen gefalteten Zettel aus seiner Tasche, auf dem mit schöner Mädchenschrift etwas geschrieben stand. Laut las er vor: „Kommt mal rüber zu uns zum Gruppensex!“ Besonders komisch wirkte dabei, dass er das Wort „Sex“ mit weichem S-Laut, so wie die Zahl „sechs“, aussprach. Aus heutiger Sicht finde ich es ganz außerordentlich, dass unser Lehrer so etwas vorlesen konnte, ohne dabei lachen zu müssen. Er machte auch nicht den Eindruck, Angst zu haben, er könne sich irgendwelchen Ärger einhandeln. Er war einfach nur empört. Keiner sagte einen Ton. Niemand gab zu, diesen Zettel geschrieben zu haben. Viele senkten ihre Blicke und kicherten. Unser Lehrer schrie noch einmal laut durch den Bus, und damit hatte es dann sein Bewenden.
Später hörte ich noch manchmal Schilderungen meiner Mitschüler davon, was denn an jenem Abend, an dem es offenbar völlig drunter und drüber ging, noch alles vorgefallen sein sollte. Aber sie waren sehr unzusammenhängend und widersprüchlich. Wer mit wem und was genau und wo und wie lange… Nichts war am Ende mit Bestimmtheit herauszubekommen. Wie oft habe ich mir später vorgestellt, an jenem Abend in Berlin nicht beim Eishockey-Spiel, sondern auf der Pyjama-Party in den Räumen unserer Mädchen gewesen zu sein. Diese Vorstellung befeuerte meine wildesten Phantasien… Und nur das Eishockey-Spiel war schuld daran, dass ich den vielleicht reizvollsten Abend meiner Schulzeit verpasst hatte. Oder lag der besondere Reiz nicht sogar darin, dass gerade dadurch meinen Phantasien noch so viel Spielraum geblieben war?
Dein Johannes