Die Pflege des Kammerrechts als Rechtsgebiet

Entwicklung bis zur dritten Auflage des „Handbuch des Kammerrechts“

Matthias Wiemers

Als Student lernt man mit Sicherheit irgendwann die Grundlagen des Kommunalrechts kennen, also die kommunale Selbstverwaltung. Dass es noch andere Formen der Selbstverwaltung gibt, bleibt den meisten Studierenden ihr Leben lang verschlossen. Wer Sozialrecht im Schwerpunkt betreibt oder vielleicht auch „Öffentliches Wirtschaftsrecht“, hat immerhin die Chance, auch einmal etwas von der so genannten funktionalen Selbstverwaltung zu erfahren. Was aber ist das?
Zur wissenschaftlichen Erforschung und Systematisierung sind hier zunächst zwei wichtige Habilitationsschriften zu nennen: Reinhard Hendler veröffentlichte 1984 „Selbstverwaltung als Ordungsprinzip. Zur politischen Willensbildung und Entscheidung im demokratischen Verfassungsstaat der Industriegesellschaft.“ Dieser bei Volkmar Götz in Göttingen entstandenen Habilitationsschrift folgte ein paar Jahre später im „Handbuch des Staatsrechts“ „Selbstverwaltung als Rechtsprinzip“ (1990), was man als Zusammenfassung der Grundlagenarbeit ansehen kann.
1997 dann wurde die Kölner Habilitationsschrift von Winfried Kluth zum Thema „funktionale Selbstverwaltung“ veröffentlicht, die für den Autor offenbar ein Lebensthema darstellt. Im WS 1998/99 an die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg berufen, gründete Winfried Kluth bereits 2002 das „Institut für Kammerrecht“ als eingetragenen Verein an dieser Universität und widmet sich seither der Entwicklung und Pflege dieses relativ neuen Rechtsgebiets. Denn die Kammern bilden einen wesentlichen Teil der funktionalen Selbstverwaltung, wenn auch nicht den hinsichtlich Haushaltsvolumen, Mitgliederschaft und Bedeutung für die Gesamtgesellschaft wichtigsten. Dieser wichtigere Teil wird gebildet durch die Zweige der Sozialversicherung mit eigener Selbstverwaltung, die ebenfalls zum weiteren Begriff der funktionalen Selbstverwaltung rechnen. Nimmt die Bedeutung der sozialen Selbstverwaltung teilweise ab, weil etwa im System der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) aufgrund der demographischen Entwicklung die Lebensstandardsicherung nicht mehr das Ziel sein kann, so hat der Teil der funktionalen Selbstverwaltung, der von den Kammern repräsentiert wird, an Bedeutung eher zugenommen. Dies folgt aus meiner Sicht einmal daraus, dass der Bereich der politischen Interessenvertretung über freiwillige Zusammenschlüsse, die in Deutschland herkömmlich als „Verbände“ bezeichnet werden, deutlich abgenommen hat, zum anderen aber daraus, dass auch die (höchstrichterliche) Rechtsprechung in den letzten Jahren zunehmend zu einer Ausformung des Teilrechtsgebiets „Kammerrecht“ beigetragen hat. Und diese Entwicklung wird ständig begleitet durch das Institut für Kammerrecht, das jährlich an wechselnden Standorten im Bundesgebiet Jahrestagungen durchführt und nicht nur jährlich die Entwicklung durch ein „Jahrbuch des Kammerrechts“ dokumentiert, sondern es erscheint seit 2005 auch ein „Handbuch des Kammerrechts“, dessen 3. Auflage nun kürzlich vorgelegt wurde.
In diesem Handbuch führt uns Winfried Kluth zunächst in das „Kammerrecht als Rechtsgebiet“ ein (§ 2). Darin wird vor allem die historische Entwicklung in der wissenschaftlichen Behandlung des Phänomens Kammerwesen behandelt, aber auch das Kammerrecht in das System des öffentlichen Rechts eingeordnet und auf andere Wissenschaftsdisziplinen geblickt, die sich ebenfalls mit dem Kammerwesen beschäftigen. Hendler und Klurh schildern sodann „Geschichte und Idee der funktionalen Selbstverwaltung“ (§2). Kann der Leser im zweiten Kapitel sehr viel lernen in Bezug auf die Entwicklung der öffentlich-rechtlichen Institutionen seit dem 19. Jahrhundert, so wird er im dritten Kapitel von Kluth in die „Entwicklungsgeschichte der deutschen Kammern“ (§ 3) geführt. Die ganze Vielfalt des Kammerwesens – von den Ärztekammern bis zu den Lotsenbruderschaften – wird hier dargestellt.
Karolin Heyne zeigt sodann das „Kammerwesen in anderen Staaten“ (§ 4), worin nicht nur die Verhältnisse in Europa betrachtet werden.
„Verfassungsrechtliche und europarechtliche Grundlagen des Kammerrechts“ (§ 5) werden von Winfried Kluth dargestellt, der hier stark von den Erkenntnissen in seiner Habilitationsschrift Gebrauch machen kann.
Kluth gibt sodann einen Überblick über die aktuellen Rechtsgrundlagen der Kammern, also über die jeweiligen Kammergesetze wie z. B. die Heilberufegesetze, das IHKG und die Handwerksordnung (§ 6).
Wie es auch ein Kommunalverfassungsrecht gibt, so gibt es auch ein Recht der Verfassung von Kammern, das man auch als Kammerorganisationsrecht bezeichnen kann. Im Handbuch haben dies Thomas Groß und Arne Pautsch behandelt (§ 7). Sven Eisenmenger stellt zwei Gruppen von Aufgaben der Kammern gemeinsam dar, nämlich Interessenvertretung und Beratung. In diesem Bereich spielen sich, auch nachdem das BVerfG im Jahre 2017 noch einmal grundsätzlich und bejahend zur Pflichtmitgliedschaft in den industrie- und Handelskammern Stellung genommen hat, die meisten Streitfragen zwischen (Zwangs-)Mitgliedern und ihren Kammern ab. Zu Recht stellt Eisenmenger die Frage, ob eine wirksame Vertretung des jeweiligen Gesamtinteresses überhaupt möglich ist, wenn man der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte folgt, die auf Mäßigung und Zurückhaltung drängt – gerade in Zeiten der neuen Medien (§ 8, Rdnr. 78 ff.).
Dem folgt ein Kapitel über „Berufsrecht“ (§ 9), das von Cornelius Böllhoff und Matthias Ruffert besorgt wurde, gefolgt von „Berufsaufsicht und Berufsgerichtsbarkeit“ (§ 10, Frederic Stephan).
Wiederum Winfried Kluth beschäftigt sich danach mit „Einrichtungen, wirtschaftliche Betätigung und Beteiligungen der Kammern“ (§ 11).
Carolin Heyne behandelt sodann das „Haushaltsrecht der Kammern einschließlich Vergaberecht“ (§ 12), bevor Frank Rieger den ebenfalls sehr streitigen Teil der „Kammerfinanzierung“ (§ 13) kommentiert. Der Band wird beschlossen durch Kapitel über „Rechtsschutz“ (§ 14, Burkhard Schöbener), „Staatliche Aufsicht“ (§ 15, Andreas Heusch) und „Berufsständische Versorgungswerke“ (§ 16, Hermann Butzer).

Alles in allem kann man feststellen: Die Kammern sind gewissermaßen der Staat im Kleinen. Folglich sind die Mitglieder auch nicht einfach – im Sinne des New Public Management – als „Kunden“ zu qualifizieren, bei denen immer etwas mitschwingt, dass man sie eigentlich nicht recht ernst nimmt, sondern als Kammerbürger, die an der Willensbildung ihrer jeweiligen Kammer mitwirken dürfen, es aber auch nicht müssen.

Winfried Kluth (Hrsg.), Handbuch des Kammerreichts, 3. Aufl. Baden Baden 2020, 717 S., 98 Euro

 

Veröffentlicht von on Aug 24th, 2020 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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