Die ganze Welt der „Sozialen Arbeit“

Der Reinhardt Verlag hält das Standardwerk hierzu bereit

Matthias Wiemers

Viele Kritiker sind der Meinung, der „Sozialbereich“ umfasse einen zu großen Teil des Bruttosozialprodukts und der öffentlichen Haushalte. Das mag stimmen. Man muss aber konstatieren, dass ein wohl zunehmender Anteil an der Bevölkerung mit den Herausforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens überfordert ist und Hilfe benötigt. Nicht zuletzt haben der moderne Governance-Begriff und die Gouvernante denselben Ursprung (Diese Beobachtung verdanke ich Andreas Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, München 2015, S. 256).
Auf gut 1900 Seiten wird im „Handbuch Soziale Arbeit“ das gesamte Gebiet der Sozialen Arbeit in wirklich jeder Dimension ausgeleuchtet – von der historischen Dimension über die Theorie und die Facetten der Praxis bis hin zu Beiträgen zum internationalen Vergleich.
Tatsächlich aufgebaut ist der Band aber lexikalisch, sodass der erste Beitrag „Abenteuer- und Erlebnispädagogik“ lautet. Dier Beitrag zeigt uns schon die geschichtliche Entwicklung und die aktuelle Diskussion eines Phänomens, das bei Laien immer wieder auf Kritik trifft, bei Insidern des Systems der Kinder- und Jugendhilfe aber immer wieder als erfolgversprechend bezeichnet wird. „Abweichendes Verhalten“ kennt der Jurist aus der Kriminologie. Dieser Beitrag gipfelt in der Verortung der „Jugendhilfe als Kontrollinstanz“
Noch juristischer ist der dritte Beitrag in dem Band über „Adoption und Pflegschaften“, der gesättigt ist von statistischen Angaben und Zuordnung der Einzelphänomene im Sozialrecht und BGB-Familienrecht. Etwas knapper ist „Adressatin und Adressat“, was nicht der aus dem Verwaltungsprozessrecht bekannten Adressatentheorie entspricht. Es geht vielmehr um die Ablösung des allerdings bis heute geläufigeren Begriffs des Klienten/ der Klientin, aber auch der Kundin/ des Kunden. Dies scheint mir ein verfolgenswerter Ansatz zu sein, weil einerseits der Kundenbegriff jedenfalls in Handlungsfeldern der öffentlichen Hand nichts zu suchen hat und man andererseits auch nicht einfach auf den Begriff des Bürgers umschwenken kann – weil doch nicht alle Adressaten sozialpädagogischen Handelns tatsächlich den Bürgerstatus aufweisen Und der „Klient“ teil nach hiesiger Einschätzung oftmals das Schicksal des Kunden: Man nimmt diese Menschen nicht immer in ausreichendem Maße ernst.
Brechen wir hier die alphabetische Durchsicht des Bandes ab und springen zu einem historischen Überblicksartikel über „Berufs- und Professionsgeschichte der Sozialen Arbeit“. Hier können wir das in den letzten Jahren sehr aktuelle Thema der Veränderung von Berufsbildern, der Neuordnung des Rechts der Pflegeberufe und der Akademisierung von sozialen Berufen detailliert nachverfolgen.
Um „soziale Berufe“ in den allgemeinen Arbeitsmarkt einordnen zu können, kann ein umfangreicher Beitrag zu „Beschäftigung und Arbeit in der nachindustriellen Gesellschaft“ dienen.
Selbstverständlich wird auch der Begriff der „Bildung“ ausführlich erklärt; wird doch die Bildung als wichtiger Bestandteil der Kinder- und Jugendarbeit angesehen. Dies wird unter der Überschrift „Non-formalisierte Bildung in der Sozialen Arbeit“ besonders thematisiert. „Bildungsforschung“ und „Bildungspolitik“ sind weitere Kapitel, wobei es gerade die Bildungsforschung ist, deren Ergebnisse bekanntlich dazu führen, Maßnahmen der Bildungspolitik bzw. auch Maßnahmen der Sozialen Arbeit zu ergreifen, um die in der Bildungsforschung festgestellten Defizite in der nachwachsenden Bevölkerung anzugehen.
Dass man aber die Autoren dieses Bandes nicht leichthin auf das Konto des expandierenden Sozialstaats buchen darf, zeigt wiederum das Kapitel „Care und Case Management“. Der Autor (Wolf Rainer Wendt) weist den Verdacht „neoliberaler Ökonomisierung“ gegenüber dem Gegenstand seines Beitrags zurück, indem er das innovative Potential dieses Handlungskonzepts unterstreicht (S. 221).
Im thematischen Anschluss daran ist das Kapitel über „Dienstleistungsorientierung“ zu sehen, worin die noch nicht zum Stillstand gekommene Debatte über das Neue Steuerungsmodell , die Qualitätsdiskussion in der Pflege und die Evidenzbasierung diskutiert werden.
Natürlich werden sind auch Kapitel zu „Diversity“, „Gender Mainstreaming“ und „Genderpolitik“ behandelt, aber auch „Governance“ und „Grundrechte“. In letzterem Beitrag interpretiert Ingo Richter, langjähriger Direktor des Deutschen Jugendinstituts in München, die Grundrechte als Mittel zur Lebensbewältigung (S. 607). Hierüber hatte ich bislang nicht nachgedacht.
Kurz und gut: Es sind insgesamt 181 Beiträge von etwa 200 Autoren, die inhaltlich keine Wünsche offen lassen und die durch ein ausgezeichnetes Sachverzeichnis auch „quer“ zum Inhaltsverzeichnis erschlossen werden können.
Um auf den Ausgangspunkt dieser Zeilen zurückzukommen: Die sozialpflegerische Tätigkeit des Staates mag zwar nicht jedem schmecken, aber sie ist eine Realität. Insbesondere das System der Kinder- und Jugendhilfe mit ihrem Vorrang der privaten Träger bilden ein Geflecht, mit dem die Gesellschaft ihre innere Struktur erhält. Um dieses Geflecht besser verstehen zu können, ist die Zuhilfenahme des vorliegenden Handbuchs sehr zu empfehlen. Einzelne Kapitel lassen sich auch online einzeln erwerben, mit einem speziellen Zugangscode auch das gesamte Handbuch online gelesen und mit einer Suchfunktion auf einzelne Begriffe durchsucht werden.
Mit diesem Kompendium wird jedem Akteur der Sozialen Arbeit ein optimales Hilfsmittel an die Hand gegeben, um praktisch jede aktuelle Debatte aus seiner Profession adäquat in ihre jeweiligen Kontexte einzuordnen. Und der Preis ist mit unter 80 Euro eine absolute Sensation. Eine Entschuldigung, wonach man als Sozialarbeiter zu wenig verdiene, um sich mit Fachliteratur zu versorgen, würde hier jedenfalls nicht zählen.

Hans-Uwe Otto/ Hans Thiersch/ Rainer Treptow/ Holger Ziegler (Hg.), Handbuch Soziale Arbeit, 6. Überarbeitete Auflage, Reinhardt Verlag, München 2018, 1919 S., 79,90 Euro (ISBN 9783497027453)

Veröffentlicht von on Sep 14th, 2020 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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