Aus dem Tagebuch einer Recht-bald-Referendarin
Liebes Tagebuch!
Da, wo wir wohnen, haben wir eine verrückte Nachbarin. Die hat Alzheimer oder so und eigentlich müsste sie einem leid tun. Aber in erster Linie tue ich mir leid, dass ich so eine verrückte Nachbarin habe. Von früh bis spät schreit sie nach Herbert, ihrem Mann. Doch der ist so gut wie nie da und ich glaube, das beruht auf gesundheitlichen Gründen: Wäre er die ganze Zeit da, hätte er wahrscheinlich einen Hörschaden! Naja, vielleicht wäre das auch nicht das Schlechteste, denn wenn man nichts mehr hören kann, dann kann einem auch das Geschrei dieser Frau nicht mehr auf den Geist gehen.
Wenn Herbert dann doch mal spät abends nach Hause kommt, verzieht er sich mit Ohrstöpseln in sein Zimmer, munkelt man jedenfalls im Haus. Und so bekommt er natürlich auch nicht mit, wenn seine Frau nachts um halb zwei der Meinung ist, man müsse die Wiederholung der Golden Girls in Dolby Surround und Kinolautstärke hören. Ich habe nichts gegen Dorothy, Rose, Blanche und Sophia, doch ich glaube, im Examen hilft es einem nur unwesentlich weiter, wenn man sämtliche Dialoge dieser Serie auswendig aufsagen kann, weil man sie nächtelang laut genug verinnerlicht hat. Vielleicht sollte ich einmal zum Gegenangriff übergehen, mich mitten in der Nacht mit einem Mikrofon vor ihrer Wohnungstür positionieren und den Palandt vorlesen! Das Problem ist nur: Am nächsten Morgen wird sie den ganzen Terror wieder vergessen haben – sie hat ja Alzheimer.
Diese Frau kann einen in den Wahnsinn treiben wie ein BSE-Rind. Lange nichts mehr vom Rinderwahn gehört, von meiner Nachbarin aber gerade erst wieder letzte Nacht… ICH BRAUCHE RUHE! ICH MUSS LERNEN! Da könne man leider nicht viel machen, sagen die Polizeibeamten, die wir dann doch ab und an rufen müssen, wenn die werte Nachbarin sich gar nicht mehr einkriegt. Sie stelle halt keine ausreichende Gefahr für ihr Umfeld dar und deshalb könne man sie auch nicht so ohne weiteres aus eben diesem entfernen und ins Heim verfrachten. Keine ausreichende Gefahr für ihr Umfeld? Hallo?! Wenn ich nicht genug und vor allem erholsamen Schlaf bekomme, werde ICH zur Gefahr für meine Mitmenschen! Und wenn ich unausgeschlafen bin, dann kann ich nicht effektiv lernen und wenn ich nicht effektiv lernen kann, dann werde ich kein guter Jurist und wenn ich dann mit gefährlichem Halbwissen auf den Arbeitsmarkt stolpere und auf die Menschheit losgelassen werde – das soll keine Gefahr darstellen? Schon mal was von Kausalität gehört? Conditio sine qua non?!
Na gut, ich gebe zu – das ist vielleicht doch etwas weit hergeholt. Kommen wir zu etwas Nahliegendem: Diese Frau muss ins Heim! Vielleicht in das Altersheim, das schräg gegenüber von unserem Haus liegt. Da kann sie dann schreien, so laut sie will – man wird sie nicht hören. Denn an diesem Altersheim finden gerade Umbauarbeiten statt. Spätestens um acht Uhr früh wird man von einem freundlichen Presslufthammer geweckt…wenn man nicht eh die ganze Nacht wach war und den Golden Girls gelauscht hat…
Morgen mache ich es wie Herbert und kaufe mir Ohrstöpsel.
Deine Nina