Drei Münsteraner Professoren präsentieren ein innovatives Modell
Matthias Wiemers
Als der Rezensent Anfang der 90er Jahre Rechtswissenschaften in Münster studierte, hatte er im Öffentlichen Recht zwei Semester lang das Vergnügen mit Christoph Degenhart, der Staatsrecht I und Staatsrecht II las und dabei auch immer ausführlich Werbung für sein eigenes, gut strukturiertes Lehrbuch zum „Staatsrecht I“ machte (oft wies er darauf hin, es gebe auch Hörerscheine, und manchmal teilte er diese auch aus und warf Vorauflagen ins Publikum).
Die Vorlesung hat inzwischen in ganz Deutschland zumeist den Namen geändert und heißt jetzt „Verfassungsrecht“, nicht mehr „Staatsrecht“ (Wir wollen darauf an dieser Stelle nicht näher eingehen; gegeben sei nur der Hinweis auf die einschneidende Studienreform im Jahre 1935, wo es plötzlich auch „Verfassung“ und „Verwaltung“ hieß. Man kann gewiss heute darüber nachdenken, ob hierbei die Smend-Schule auf der einen und der Verfassungspatriotismus auf der anderen Seite für die Änderungen der letzten Jahre Pate gestanden haben.)
In Münster ist man inzwischen noch weiter gegangen, und auch hierzu sei – um den Schritt nachzuvollziehen – nochmal in die frühen Neunziger zurückgeblickt. Dort hörte ich – es muss im dritten, vierten oder fünften Semester gewesen sein –, auch „Europarecht“ bei einem Pionier des Fachs, Albert Bleckmann (1933 bis 2004; zu ihm irgendwann hier mehr).
Bleckmanns Vorlesung hat mich damals nicht so mitgerissen. Er ließ sich auch oft von seinen Mitarbeitern vertreten, die alle in irgendeiner Form an der Erstellung seines Standardlehrbuchs (damals: 5. Aufl. 1990) beteiligt waren und auch in der Vorlesung „ranmussten“. Im Unterschied zum Staatsrecht, das die beste Überleitung von einem sozialwissenschaftlich ausgerichteten Oberstufenunterrichtet brachte, waren mir die Vorgänge, über die im Europarecht gehandelt wurde, weitgehend unbekannt.
Inzwischen weiß jeder (auch angehende) Jurist, dass das Europarecht längst integraler Bestandteil zahlreicher anderer Teile der Rechtsordnung geworden ist. Warum dann nicht wenigstens zwischen Verfassungsrecht und Europarecht eine Einheit bilden? So ähnlich dachte man offenbar vor wenigen Jahren in Münster, und so haben drei noch nicht so kurz vor der Emeritierung stehende Ordinarien des Öffentlichen Rechts insgesamt zwei Lehrbücher geschrieben, die es in sich haben.
Gernot Sydow und Fabian Wittreck haben nun in diesem Jahr in zweiter Auflage „Deutsches und Europäisches Verfassungsrecht I“ und Niels Petersen 2019 erstmals „Deutsches und Europäisches Verfassungsrecht II“ veröffentlicht, die inhaltlich nun vorzustellen sind.
Im ersten Band wurden insgesamt 17 Kapitel auf vier Teile verteilt: Verfassung, Prinzipien, Institutionen, Verfahren.
Das Band beginnt mit einem Kapitel mit dem Titel „Bezugspunkte des Verfassungsrechts“, und dieses Kapitel hat es bereits in sich. Denn hier wird auch etwas Allgemeine Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtstheorie geliefert.
Nach einer Seite Literaturübersicht, liefert Sydow zunächst den Unterschied zwischen Verfassungsdogmatik und Verfassungstheorie und erläutert die unterschiedlichen Verfassungsbegriffe, die Entstehungsgeschichte und etwa die Bedeutung der Verfassung für das einfache Recht. Auch der Staatsbegriff wird nicht ausgespart, und die Autoren geben bereits hier ein Bekenntnis ab: „Dieses Lehrbuch schätzt die Leistungsfähigkeit eines verfassungsbezogenen Denkens höher ein als die eines staatsbezogenen Denkens“ (Kap. 1, Rdnr. 52).
Wohl nicht von ungefähr wird dann im europarechtlichen Abschnitt auch der EU eine Verfassung zugesprochen – auch wenn sie kein Staat ist (Rdnr. 74 ff.).
Fabian Wittreck befasst sich im zweiten Kapitel mit der verfassunggebenden Gewalt und der Verfassunggebeung. Hier ist interessant, wie er den Brexit als aktuelles europarechtliches und auch politisches Thema behandelt und daraus sogleich Fragen nach einem möglichen Austritt Deutschlands verbindet (Im Falle Deutschlands müßte zuerst Art. 23 GG geändert werden, Kap. 2, Rdnr. 35). Wittreck beurteilt auch sogleich in den Klausurhinweisen – wie dies auch sonst in den beiden Bänden geschieht – die Examensrelevanz des Kapitels. Wetier geht es mit einer Beschreibung der „Charakteristika des Verfassungsrechts“ (Kap. 3). Hie möchte ich auf den sehr eingängigen Vergleich des Autors hinsichtlich der historischen Auslegung von Verfassungsrecht und europäischem Primärrecht hinweisen, den Sie aber bitte selbst nachlesen (Rdnr. 26).
Sydow stellt sodann das „Verhältnis von deutschem und europäischem Recht) dar (Kap. 4) und bringt hier mehrfach das instruktive Beispiel des aktuellen Datenschutzrechts. Die Klausurhinweise enthalten die Aussage, dass das dargestellte Kooperationsverhältnis zwischen EuGH und BVerfG das Anspruchsniveau des Grundstudiums übersteige.
Sydow beginnt bei den „Prinzipien“ mit der Darstellung der Demokratie (Kap. 5). Darin wird noch einmal das Verhältnis Staat und Verfassung angesprochen, indem Sydow die Konsequenzen einer „etatistischen Lesart des Demokratieprinzips“ andeutet (Rdnr. 114).
Wittreck weiht den Leser in die Geheimnisse des Rechtsstaats ein (Kap. 6). Das Kapitel 7 über „Bundesstaat, Sozialstaat, Republik, Säkularität“ fasst m. E. die in ihrer Bedeutung wirklich nicht so wichtigen Prinzipien der Verfassungsordnung zusammen und stammt auch von Wittreck. Besonders schön ist seine Darstellung des Prinzips der Bundestreue (Rdnr. 5 ff.). Hier wie auch an anderen Stellen des Buches – wird der etwas andere Schreibstil des Autors Wittreck deutlich, der anders als die beiden anderen besonders plastisch zu schildern weiß (und mich darin wieder an Degenhart in der Vorlesung erinnert).
„Staatsaufgaben, Staatszielbestimmungen und Ziele der EU“ schildert Sydow (Kap. 8). Dieser setzt sich hier durchaus kritisch und mit guten Gründen mit der Lissabon-Entscheidung des BVerfG auseinander (Rdnr. 11 ff.).
Die Schilderung der „Institutionen“ beginnt mit den „Parlamenten“ (Kap. 9, Wittreck). Dieses Kapitel sei besonders empfohlen im Hinblick auf den dargestellten Wandel des Parlaments seit der Zeit der Parlamentarisierung der Regierungen, die zu einem Ausfall der Kontrollfunktion des Parlaments führt (Rdnr. 16 ff.). Auch hier wird die Lissabon-Entscheidung des BVerfG kritisiert aber als notwendige Kenntnis bestätigt (Rdnr. 37 Frage des Rezensenten: Wenn doch das Parlament als Kontrolleur der Regierung ausfällt, muss dann nicht das BVerfG hier an dessen Stelle treten?)
Sydow ergänzt die Darstellung um „Gubernative Organe mit Gesetzgebungsfunktionen“ (Kap. 10), worin eine (auch graphische) Darstellung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Deutschland (Bundesrat!) und EU hervorzuheben ist. Es folgen „Organe der Exekutive“ (Kap. 11, Sydow), worin etwa die Bundesregierung dargestellt wird.
Wittreck schildert sodann „Gerichte“ (Kap. 12), und „Parteien als am Verfassungsleben beteiligte Organe“ (Kap. 13).
Interessant ist, was die Autoren unter Teil 4 „Verfahren“ zusammenfassen, nämlich „Verfassungsänderung“ (Kap. 14, Wittreck), „Rechtsetzung“ (Kap. 15, Sydow), „Verwaltung“ (Kap. 16, Sydow) und „Rechtsprechung“ (Kap. 17, Wittreck).
Der zweite Band von Petersen ist nicht in Kapitel, sondern in Paragraphen eingeteilt, was sicherlich die Verweisungen innerhalb der Bände noch einmal klarer stellt. Und es sind insgesamt zehn Paragraphen. Schließlich werden hier allgemeine Literaturhinweise gewissermaßen vor die Klammer an den Beginn des Bandes gezogen während im ersten Band die jeweils zu Beginn jedes Kapitels geschieht (mit Ergänzungen unter den Klausurhinweisen.) Auch Petersen ergänzt die Literatur innerhalb der Kapitel, wo ihm dies sinnvoll erschien
Der band integriert Allgemeine Grundrechtslehren und Besondere Grundrechtslehren sowie die EU-Grundrechtecharta und den EMRK. Dabei hat Petersen immer Themen aus dem nationalen und europäischen Recht zusammengezogen, beginnend mit „Grundlagen“ (§ 1), wo zunächst einmal die verschiedenen Grundrechtsgewährleistungen vergleichend dargestellt werden. Die Landesgrundrechte werden in dem Band nicht systematisch erfasst. Auch etwa Rechtstheorie bringt Petersen in den Grundlagen, indem er die Frage „Grundrechte als Prinzipien?“ im Sinne Robert Alexis aufwirft (§ 1 D.) Es folgt eine kleine Darstellung über „Die Struktur der Grundrechtsprüfung“ (§ 2). Es folgen „Die Freiheitsrechte“ (§ 3) als umfangreichstes Kapitel des Bandes. Zusammengefaßt sind sodann „Menschenwürde, Sklaverei- und Folterverbot“ (§ 4), worin etwa die Frage der „Menschenwürde als Grundrecht?“ aufgeworfen wird – weswegen hier ein gesondertes Kapitel geboten war. § 5 behandelt „Die Gleichheitsrechte“, § 6 „Justiz- und Verfahrensgrundrechte“. Werden im Rahmen der Gleichheitsrechte schon Diskriminierungsverbote behandelt, so setzt sich § 7 noch einmal explizit mit „Grundfreiheiten“ auseinander.
Was man vielleicht schon zu Beginn des Bandes erwartet hatte, folgt als § 8: Leistungsrechte, Schutzpflichten und Drittwirkung. Der Vorteil der Darstellung an dieser Stelle ist didaktisch zu rechtfertigen. Besonders klausurrelevant ist § 9, wo „Die gerichtliche Geltendmachung von Verletzungen der Grundrechte und Grundfreiheiten“ zusammenfassend dargestellt wird.
Den Band krönt ein abschließendes Kapitel über „Das Zusammenspiel der verschiedenen Grundrechtsordnungen“ (§ 10), das aber durchaus auch zuerst und gezielt gelesen werden kann. Denn die Einzeldarstellungen bieten nicht nur Didaktik, sondern auch aktuelle Darstellungen wichtiger, auch in der Praxis bis heute streitigen, Themen.
Die Bände ist mit zahlreichen Beispielen, Arbeitshinweisen und Klausurhinweisen durchzogen, ebenso mit Verweisungen innerhalb des jeweiligen Bandes sowie unter den Bänden. Ebenso enthalten sie zahlreiche Prüfschemata, wobei auf ihre eingeschränkte Nutzbarkeit hingewiesen wird.
Die Autoren haben für ihr Werk nicht, was jedenfalls zu meiner Studienzeit noch nahegelegen hätte, einen örtlichen Verlag gewonnen, sondern sind gleich nach München gegangen. Damit verbindet sich nun in Zukunft hoffentlich eines: Dass auch andere Universitäten darüber nachdenken, ihre Vorlesungen zu vereinen. Mindestens aber haben Studierende in der gesamten Republik die Möglichkeit, sich mit Hilfe zweier wirklich ausgezeichneter Lehrbücher das nationale und europäische Verfassungsrecht jeweils im Kontext zu erschließen. Man kann nur fragen, ob das mit diesen beiden Bänden sehr komprimierte Wissen Erstsemester nicht überfordert. Spätestens vor dem Examen lohnt allerdings in jedem Fall die (nochmalige) Lektüre
Weiter so, Münster!