Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
nie werde ich diese Geschichte vergessen, die ich in der einzigen von mir jemals besuchten Volkswirtschafts-Vorlesung vor ziemlich genau zwanzig Jahren während der Wahlstation meines Referendariats an der Hochschulde für Verwaltungswissenschaft in Speyer vom Professor gehört und die mir wahrscheinlich auch deshalb so gut in Erinnerung geblieben ist, weil ich für solche Dinge wohl immer und stets besonders offene Ohren gehabt habe. Der Wirtschafts-Prof berichtete nämlich, um das Prinzip des Homo oekonomicus, des rational denkenden mündigen Verbrauchers, zu veranschaulichen, seinen bislang nur juristisch vorgebildeten Zuhörern davon, wie er als junger Mann in sein erstes Auto gestiegen und gleich zur Esso-Tankstelle gefahren sei, in der Meinung: wenn er dort tankte, dann hätte er, wie es die Werbung suggeriere, „den Tiger im Tank“. Doch habe er sich dann später, nachdem er gelegentlich den Tank seines Fahrzeugs auch an anderen Tankstellen gefüllt habe, eingestehen müssen, dass er gar keinen Unterschied zwischen dem Esso-Benzin und den anderen Sorten feststellen könne. Und sodann fragte er uns, sein Publikum, rhetorisch: „Glauben S i e an den Tiger im Tank?!“ Er tue dies schon lange nicht mehr. Und wie beim Benzin, so sei es auch mit anderen Marken-Produkten. Die Werbung sei das eine, die Wirklichkeit das andere. Die exzellenten Untersuchungen der Stiftung Warentest, finanziert mit öffentlichen Geldern und daher unabhängig, bewiesen doch immer wieder aufs Neue, dass teure Markenprodukte zumeist nicht besser seien als billige No-Names. „Oder glauben S i e an den Tiger im Tank?!“ Und diesen Spruch wiederholte er nach jedem weiteren Beispiel aufs Neue.
Wenn ich heute daran zurückdenke, verspüre ich sogar ein Gefühl von Dankbarkeit, denn dieser Professor, dessen Namen ich mir schon damals nicht merken konnte, hat mich nicht nur in meiner ohnehin vorhandenen Meinung bestärkt, sondern mir auch den besten und treffendsten denkbaren Spruch mit auf den Weg gegeben, um z. B. manche Kaufgelüste meiner Frau abzuwehren: „Du glaubst wohl auch an den Tiger im Tank…“ Immer kann man so oder anders konsumieren: zum einzelnen Müsli-Riegel neben der Kasse für 99 Cent greifen oder zur ganzen Müsli-Riegel-Packung, die ebenfalls 99 Cent kostet. Noch viel krasser sind die Preisunterschiede etwa bei Kosmetik-Produkten, aber hier erweisen sich vermutlich 80 bis 90 Prozent aller weiblichen Wesen als vollkommen unbelehrbar, egal wie oft die angebliche Edel-Kosmetik bei der Stiftung Warentest abgeschlagen und mit „mangelhaft“-Bewertung auf den hinteren Rängen landet. Natürlich soll das jeder so machen, wie er (oder sie) es möchte. Gar nicht so wenige Menschen fühlen sich besser, wenn sie sich den vermeintlichen Luxus gönnen, nicht immer nur die billigsten Produkte zu kaufen. Und es kann ja auch tatsächlich die Lebensqualität erheblich steigern, sein Geld für „schönen Schein“ auszugeben…
Interessant ist aber, was die Wahrnehmungspsychologie hierzu herausgefunden hat: Die Erwartungshaltung, mit der wir essen, trinken, riechen oder sogar sehen, beeinflusst sehr stark, was wir dann tatsächlich zu schmecken, zu riechen oder zu erkennen glauben. Vielen Menschen schmeckt z. B. ein Wein besonders gut, wenn man ihnen vorher erzählt hat, er sei besonders teuer, obwohl er in Wirklichkeit ganz billig ist. Und umgekehrt: Lässt man sie einen teuren Wein probieren und erzählt ihnen zuvor, dass er billig sei, dann schmeckt er ihnen nicht. Doch bei anderen Menschen ist es gerade andersherum. Solchen Genuss-Skeptikern, zu denen auch ich mich zählen würde (zumindest was die Dinge des alltäglichen Konsums angeht), gefallen Produkte umso besser, je weniger sie für sie bezahlt haben. Keine Tafel Milka-Schokolade schmeckt mir so gut wie die, die wir zum Aktionspreis von 55 Cent gekauft haben, und keine unserer Lampen macht mich so glücklich wie die fabelhaft leuchtende und sogar noch recht hübsche, deren letztes Exemplar wir für 9,99 Euro bei Netto erstanden haben…
Kurios und lustig wird es, wenn solche entgegengesetzten Vorlieben, die fürs Teure und die fürs Preiswerte, aufeinanderprallen. Als mein Freund aus Köln, der als Genießer und Verschwender bekannt ist, den Gin, von dem ich ihm eingeschenkt hatte, in den höchsten Tönen lobte, erklärte ich ihm: „Und das Beste an ihm ist, dass er bei Aldi nur 10 Euro gekostet hat.“ Woraufhin er mich erbost fragte: „Warum erzählst du uns das denn? So verdirbst du uns doch völlig den Genuss. Ich hätte gedacht, er kostet mindestens 50 Euro!“ Woraufhin der Gin mir gleich noch besser schmeckte als ohnehin schon…
Ebenfalls auf der enormen (und immer wieder unterschätzten) menschlichen Einbildungskraft beruht der sogenannte Pygmalion-Effekt, von dem ich im nächsten Tagebucheintrag berichten werde.
Dein Johannes