75 Jahre Grundgesetz und Ausblick auf ein Schicksalsjahr
Thomas Claer
Rückblickend betrachtet sind die 75 Jahre Grundgesetz in Westdeutschland und immerhin auch schon 34 Jahre Grundgesetz in Gesamtdeutschland, die wir in diesem Jahr feiern können, eine enorme Erfolgsgeschichte. Vor allem auch, wenn man bedenkt, zu welch märchenhaftem Wohlstand es die Deutschen in dieser Zeit gebracht haben. Selbst den Ärmsten geht es hierzulande – rein materiell gesehen – weit besser als jemals zuvor und so gut wie kaum irgendwo sonst auf der Welt. Die ungebrochene Attraktivität Deutschlands als Einwanderungsland legt hiervon ebenfalls Zeugnis ab. Insbesondere hat auch die deutsche Einheit, also die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West, in den zurückliegenden dreieinhalb Jahrzehnten letztlich eine sehr positive Entwicklung genommen. Wenn auch die Wirtschaftskraft der neuen Bundesländer noch immer hinter der im Westen zurückbleibt, so ist doch die massenhafte Abwanderung überwiegend junger Menschen aus dem Osten, die noch bis in die Zehnerjahre hinein zu beklagen war, nicht nur längst zum Stillstand gekommen, sondern hat sich mancherorts schon beinahe umgekehrt. Zuletzt haben sich sogar vermehrt bedeutende internationale Unternehmen für den Auf- und Ausbau von Standorten in Ostdeutschland entschieden. Selbst die heftigen Krisen der letzten drei Jahre, zuerst Corona, dann Ukraine-Krieg und vorübergehender Energiemangel, haben den Big Player in der Mitte Europas keineswegs aus der Bahn geworfen. Das aktuell leichte Schwächeln der Konjunktur geschieht auf kaum vermindert hohem Niveau. Soweit die Fakten.
Nun sollte dies alles doch eigentlich Anlass sein zu einem selbstbewussten und zuversichtlichen Blick nach vorn, aber das ist es leider ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Die Stimmung ist offenbar so miserabel wie noch nie. Unsere Bundesregierung, die das Land in vielerlei Hinsicht mit Bravour durch die besagten schweren Krisen geführt, die in kürzester Frist die Energieversorgung radikal umgestellt und dennoch erfolgreich gesichert, die mit dem 49-Euro-Ticket breiten Bevölkerungsschichten zu unkomplizierter, kostengünstiger und umweltverträglicher Mobilität verholfen hat, ist nach der Hälfte der Legislaturperiode so unbeliebt wie keine ihrer Vorgängerregierungen. Doch auch die demokratischen Oppositionskräfte stehen keineswegs blendend da. Stattdessen liegt eine laut Verfassungsschutz in zumindest drei Landesverbänden “gesichert rechtsextremistische” Partei, die u.a. Millionen Zugewanderte zwangsweise “remigrieren” sowie unser Land aus der Europäischen Union hinausführen (und diese zerstören) will, in gleich drei ostdeutschen Bundesländern, wo in diesem Herbst Landtagswahlen anstehen, mit weitem Abstand vorne. So wie sie auch in den beiden anderen östlichen Ländern an erster Stelle und bundesweit stabil mit mehr als 20 Prozent auf Platz zwei liegt. Noch vor wenigen Jahren hätte man eine solche Situation für vollkommen unvorstellbar gehalten. Also was ist da los?
Nun gut, teilweise hat unsere Regierung etwas unglücklich und ungeschickt operiert wie etwa beim neuen Heizungsgesetz, das aber im Grunde genommen schon vor spätestens einem Jahrzehnt überfällig gewesen wäre (und dessen Äquivalente etwa in skandinavischen Ländern schon vor dreißig Jahren auf den Weg gebracht wurden, im überparteilichen Konsens wohlgemerkt), nur dass die Vorgängerregierungen sich fortwährend davor gedrückt haben und nun scheinheilig der Ampel den Schwarzen Peter dafür zuschieben. Die begreiflicherweise wenig populären aktuellen Sparmaßnahmen infolge des unglückseligen BVerfG-Urteils sind letztlich auch nur eine Spätfolge der krisenbedingten Zahlenakrobatik bereits der vorherigen Regierung, die aber damit beim höchsten Gericht noch durchgekommen ist…
Doch ist die Wahrnehmung offenbar in nicht unbeträchtlichen Teilen der Bevölkerung eine andere. Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa hat in seinem Umfeld die folgende, anscheinend weit verbreitete Haltung beobachtet: “Eigentlich ist unser Dörfchen okay – und dann kommt der Staat und setzt uns ein Flüchtlingsheim hin. Und dann will die Regierung an die Heizung ran. Es reicht ihr also offenbar nicht, dass sie ins Dorf eindringt, sie will in mein Haus. Und mit der Impfung dringt sie sogar in meinen Körper vor. Und mein Denken will sie auch noch beeinflussen, ich darf das N-Wort nicht mehr sagen, ich muss gendern.” (Süddeutsche Zeitung vom 26.1.2024) Das mögen die enttäuschten Stimmen derer sein, die sich von der Politik nicht gehört fühlen. Aber sollte man auf solche Stimmen hören? Doch wohl besser nicht. Es macht wirklich einigermaßen fassungslos, wenn Menschen, die mindestens neun Jahre lang in diesem Staat zur Schule gegangen sind, sich erkennbar von jeder Vernunft ab- und verschwörerischen Weltsichten zugewandt haben.
In der gestrigen ZDF-Nachrichtensendung erklärte ein befragter Passant in einem thüringischen Landkreis: “Die Partei der Mitte ist für mich die AfD.” Erschreckenderweise sind solche absonderlichen Auffassungen vor allem im ostdeutschen kleinstädtischen und ländlichen Raum längst keine Seltenheit mehr. Der Berliner Soziologe Steffen Mau konstatiert: “Insbesondere die Entwicklung im Osten ist beunruhigend: Die Partei ist da vielerorts im Grunde schon eine Volkspartei. Zumal Untersuchungen zeigen, dass die Leute, die dort inzwischen für die AfD eintreten oder sogar Parteifunktionäre sind, vielfach überhaupt nicht mehr vom klassischen rechtsradikalen Rand kommen, sondern Teil der Zivilgesellschaft waren und sind, also seit Jahr und Tag aktiv in Vereinen und Verbänden, lokal oder regional bekannt und vernetzt. Die viel beschworene Brandmauer und Dämonisierung im sozialen Alltag lässt sich da schwer durchhalten…” (Süddeutsche Zeitung ebd.)
Doch sind tatsächlich vor allem die Ostdeutschen verrückt geworden? Vielleicht als Spätfolge der Vereinigungsschocks und -traumata? Der Soziologe Hartmut Rosa hält dem sehr pointiert entgegen: “Mit Blick auf verblüffend ähnliche Probleme in Frankreich, Ungarn, Polen, der Schweiz oder den Niederlanden würde ich sagen, dass nicht die Situation in Ostdeutschland ein Sonderfall ist, sondern die in Westdeutschland.” (Süddeutsche Zeitung ebd.) Stimmt, denn ganz ähnlich bekloppte Einstellungen und Äußerungen wie aus sächsischen Dörfern kennen wir zur Genüge von Trump-Anhängern in den USA, von Bolsonaro-Fans in Brasilien und vielen anderen mehr. Deutschland hingegen gehört zu den wenigen Ländern, die den Rechtspopulismus bisher noch einigermaßen kleinhalten konnten. Noch funktionieren hier ganz überwiegend – und das nicht nur im “alten Westen” – die Zivilgesellschaft, die Demokratie, die rechtsstaatlichen Institutionen, wie auch die noch nicht völlig von den asozialen Fake-Netzwerken samt ihren Putin-Trollen verdrängten “alten” Medien.
In diesem Jahr wird es aber nun wirklich ernst: Europawahlen im Juni, drei Landtagswahlen in Ostdeutschland im Herbst und schließlich, am wichtigsten und folgenreichsten: die US-Präsidentschaftswahl im November. Schon bei den drei Landtagswahlen steht laut Steffen Mau “die Demokratie auf der Kippe”, bei den US-Wahlen gilt gleiches für unsere Sicherheit. Man kann nur inständig hoffen, dass hinter den Kulissen – auf nationaler wie auf europäische Ebene – bereits jetzt die nötigen Vorkehrungen getroffen werden, um dem Worst Case zumindest etwas entgegensetzen zu können. Aber vielleicht geschieht ja doch noch ein Wunder und Michelle Obama kandidiert statt Joe Biden und besiegt Trump, und alles wird gut. Doch das wäre wohl zu schön, um wahr zu werden…