Scheiben Spezial: Zum Tod des Musikers, Krawall-Poeten und Erotomanen Kiev Stingl (1943-2024)
Thomas Claer
Als Musiker war er mindestens so talentiert wie seine Kollegen aus der ersten Generation der deutschsprachigen Rockmusik – damals in den Siebzigern. Und als Textdichter spielte er ohnehin in einer ganz anderen Liga: Kiev Stingl, bürgerlich Gerd Stingl, der sich – inspiriert von einem seiner frühen Theaterstücke, in dem alle Figuren die Namen von Städten trugen – nach der Hauptstadt der damals noch sowjetischen Ukraine benannte. Dass nach allerhand Skandalen, etwa einer während eines Rundfunkinterviews wütend von ihm gegen die Studiowand geworfenen Bierflasche, seine Lieder nicht mehr im Radio gespielt wurden, fand er völlig in Ordnung. Denn er, der sich sein Leben lang als stolzer Solitär sah, der sich mit niemandem aus seiner pöbelhaften Umgebung und am wenigsten mit seinem Publikum gemein machen wollte, legte stets Wert darauf, sich nie selbst um die Veröffentlichung seiner künstlerischen Werke bemüht zu haben. Entdeckt und gefördert wurde er von anderen, die ihn bewunderten: zuerst von Achim Reichel, auf dessen Ahorn-Label Stingls erste drei Platten „Teuflisch“ (1975), „Hart wie Mozart“ (1979) und „Ich wünsch den Deutschen alles Gute“ (1981) erschienen; später vom Yello-Musiker Dieter Meier, der sein viertes und letztes Album „Grausam das Gold und jubelnd die Pest“ (1989) produzierte, auf dem Mitglieder der Einstürzenden Neubauten mitwirkten. Neben einigen Gedichtbänden sind von ihm dann nur noch ein paar neu abgemischte frühe Musikstücke aus seiner Jugend erschienen („X R I NUIT“, 2022).
Sein einziger Ehrgeiz, so bekannte Kiev Stingl einmal, sei es gewesen, seinen Lyriker-Kollegen Wolf Wondratschek („Früher begann der Tag mit einer Schusswunde“) in der Auflage zu übertreffen. Doch nicht einmal das ist ihm gelungen. Außer einer kleinen verschworenen, durchaus auch prominenten Fan-Gemeinde („Kiev Stingl war ein Gott für uns“, so der Rammstein-Keyboarder Flake), hat wohl kein größeres Publikum jemals Notiz von ihm genommen. Was für Kiev Stingl jedoch nie ein Malheur war, wie er in seinem letzten Interview auf laut.de verriet: „weil ich von Anfang an frei bleiben wollte und schon früh gemerkt hatte, wie andere in den Schlamassel dieses Vermarktens und Verbratens geraten. (…) Geltung bekam ich in kleineren Kreisen. Es gab ja früher nicht nur negative Kritik, sondern von intelligenterer Seite durchaus euphorische Kommentare“ (siehe oben).
Da lag es natürlich nahe, ihn als „Underground-Poeten“ zu klassifizieren, was Kiev Stingl dann aber auch wieder nicht recht war. Das Einzige, was ihm am Begriff „Underground“ gefalle, sei der Kontext zur Band Velvet Underground, die er inbrünstig verehrte und der er erkennbar musikalisch nacheiferte – bis hin zum sehr an Lou Reed erinnernden Gesangsstil. „Ich war mir immer sicher, dass meine Sachen außergewöhnlich und einzigartig sind“, so Stingl weiter in besagtem Interview. Und: „In bestimmten Momenten des Schmerzes, der Wollust und ähnlichen exzessiven Gefühlszuständen fing ich an Lieder zu machen. Also ohne große Planung, das strömte so aus mir heraus.“
Zentrales Thema und zugleich Motiv seiner Textdichtung war vor allem die Erotik. „Möglicherweise trieben mich die Frauen ins Künstlertum… insofern, als sie meine Lust an geregelter Arbeit völlig zunichte machten.“ Wobei sich sein ausgeprägter Hang zur Obszönität immer wieder Bahn brach: „Oh, du mit deinen lila Lippen / Du mit deinen Milchkuhtitten / Es riecht nach Blut / Alles was sie tut / Teuflisch, du bist so teuflisch!“ (1975). Auch über sein lyrisches Werk lässt sich nämliches sagen: „Die Nacht fickt das Licht / Blut, Darling, vergiss mein nicht“. Rückblickend konterte Stingl die gegen ihn häufig vorgebrachten Sexismus-Vorwürfe mit den Worten: „Ich bin ja auch jemand, der zurückschlägt und die Wunden, die mir Frauen geschlagen haben, nicht vergisst. Wenn ich mir diese Lieder gestattet habe, heißt das, ich habe die Dinge nicht runtergeschluckt. Denn es ist ein großer Irrtum von Naiven, zu glauben, Frauen seien harmlose Wesen, die man nicht angehen dürfe. Das ist ein Trugschluss der neueren Zeit.“
Am 24.2.2024 ist das verkannte Genie Kiev Stingl gleichsam von seiner kleinen exklusiven Bühne endgültig abgetreten.