In Juli Zehs Bestsellerroman „Über Menschen“ von 2021 wurden die jüngsten Wahlergebnisse im Osten implizit vorhergesehen
Benedikt Vallendar
Von Beruf ist Juli Zeh Juristin; ein Beruf, in dem Geschehenes einem bestehenden Ordnungswerk unterliegt, und wo es gerade nicht um Spekulatives und Vorhersagen geht. Doch nach der Lektüre ihres Erfolgsromans „Über Menschen“ aus dem Jahre 2021 darf man sich schon die Frage stellen: Wie hat die Autorin ahnen, ja fast voraussehen können, was sich da im Osten bis heute politisch zusammenbraut? Zudem: Warum hat die Alternative für Deutschland (AfD) ihre rechte Schmollecke, in der sie ihre Gegner so gerne sehen, längst verlassen? Warum wählen immer mehr, auch gemäßigt sozialisierte Bürgerinnen und Bürger eine Partei, die vom Verfassungsschutz in Teilen als „rechtsradikal“ erachtet wird? Der Roman gibt darauf keine expliziten Antworten und wirft doch Fragen auf, die wie Blaupausen ostdeutscher Denk- und Handlungsmuster wirken.
Im Zentrum steht Dora, eine Mittdreißigerin und arbeitslose Werbeagentin, die bei Ausbruch der Coronapandemie in die brandenburgische Provinz flüchtet und dort mit Erspartem ein altes Haus erwirbt. Dora lebte bis kurz davor mit dem Grünaktivisten Robert (der Herr heißt wirklich so) in einer Dreiraumwohnung, teilte teilnahmslos dessen fanatisch anmutenden Vorstellungen einer „besseren“ Welt, als sie es eines Tages nicht mehr aushält und kurzerhand das Weite sucht. Bis dato hatte Dora keine Zweifel an Roberts Aktivismus für die grüne, „gute“ Sache gehabt, will sagen: für eine gesunde Umwelt, für Masken in der U-Bahn und fairen Handel. Und dass Multikulti so richtig und wahr ist wie die Bibel und einst Karl Marx‘ „Kapital“ in der bekanntlich untergegangenen DDR.
Die Geschichte wird aus der auktorialen Erzählperspektive Doras erzählt, wodurch die Autorin implizit das Innenleben ihrer Figuren, die Denk- und Handlungsweisen ostdeutscher Provinzbewohner erkundet und ihr damit eine höchst lesenswerte Prophezeiung gelungen ist.
Kurz nach Bezug ihres Landdomizils trifft Dora im Nachbarhaus auf Gote, einen ruppig daherkommenden Mittvierziger und alleinerziehenden Vater, der abends mit seinen Kumpels Nazilieder singt und für eine politisch motivierte Schlägerei auch schon ein paar Monate im Gefängnis verbracht hat. Zunächst entsetzt von seinem Auftreten, seinen Freunden und seiner Vergangenheit, vollzieht sich zwischen Dora und Gote über mehrere Kapitel ein Annäherungsprozess, der – anders als es der Leser zeitweilig erwarten mag – nicht im Bett, sondern mit Gotes Suizid endet, als er von seiner unheilbaren Krebserkrankung erfährt.
Dora, in der Großstadt sozialisierte Arzttochter und Hauptfigur des Romans, verkörpert mit ihren Fragen an das, was um sie herum geschieht, jene Hilflosigkeit, mit der die Altparteien seit der Flüchtlingspolitik Angela Merkels passivisch zusehen müssen, wie die einstige Professorenpartei um Bernd Lucke mehr und mehr bürgerliche, auch linksliberale, akademische und selbst konfessionell verwurzelte Wählerinnen und Wähler in ihren Bann zieht. Und wie vermeintlichen „Verschwörungstheorien“ spätestens seit den 30-Prozent-Erfolgen der AfD in Sachsen, Thüringen und Brandenburg vielerorts neue Fragezeichen gefolgt sind.