Münkler deutet die Lage

Einmal mehr weist uns der Berliner Altmeister der Politikwissenschaft den Weg

Matthias Wiemers

Herfried Münkler, Emeritus der Berliner Humboldt Universität, besitzt nicht nur die Gabe verständlicher Darstellung, er schafft es spätestens seit Eintritt in den Ruhestand auch, etwa alle zwei Jahre ein neues Buch vorzulegen. Und diese Bücher handeln stets nicht nur von historisch abgeschlossenen Vorgängen, sondern behandeln Fragen, die vielleicht in der Geschichte anfangen, aber in der Gegenwart noch nicht zu Ende beantwortet sind.

Vor genau zehn Jahren erschien von ihm „Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa“. Ohne nun beide Bücher nebeneinanderlegen zu wollen, war sicherlich dieses Taschenbuch in gewisser Weise eine Vorarbeit – wie auch das 2023er Werk „Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Welt im 21. Jahrhundert“ als Vorarbeit zu betrachten ist.

Zunächst setzt sich der Autor im ersten Kapitel mit „Demokratie im 21. Jahrhundert“ auseinander und zeigt auf, in welchem Irrtum sich möglicherweise Francis Fukuyama mit seinem „Ende der Geschichte“ vor über 30 Jahren befunden hat. Dabei geht Münkler allerdings fair mit Fukuyama um, weil er ihn – im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen, die Fukuyama oft nur als Schlagwort zitieren – gelesen hat und deshalb feststellt, Fukuyama habe nicht sagen wollen, dass es in Zukunft keine autoritären Regime mehr geben werde (S. 39; man kann ein deutsches Werk ergänzen: Martin Kriele, Die demokratische Weltrevolution. Warum sich die Freiheit durchsetzen wird, München 1987).
Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um eine erneute Reform des Wahlrechts, ist die Verteidigung des Verhältniswahlrechts durch Münkler zu betonen, der schreibt: „Seitdem die Parteienlandschaft jedoch zerfasert ist, gibt es nur noch wenige sichere Wahlkreise, in denen sich strategisch denkende Köpfe behaupten können. In der Vergangenheit wäre auch deren Absicherung auf einem sicheren Platz der Landesliste möglich gewesen, um sie in der Politik zu halten; aber die Plätze auf den Landeslisten werden inzwischen nach Quotierungen vergeben, und da haben die potenziellen Politikstrategen keine Lobby, die für sie eine entsprechende Quote durchzusetzen vermag. (…) Inzwischen besteht die politische Klasse aus versierten Taktikern, und es gibt in ihr kaum noch strategische Köpfe. Das hat zur Folge, dass es zu einer politischen Horizontverengung gekommen ist: man denkt von Wahl zu Wahl, und wenn man über längere Zeiträume spricht, handelt es sich im Wesentlichen um politische Rhetorik, die für das eigene Engagement und die zugehörige Aufmerksamkeit nachrangig ist“ (S. 94 f.). Man mag dies auch anders sehen und den Vorrang des Direktmandats postulieren. Aber welchen Wert hat ein Direktmandat, das mit 26 oder 27 % gewonnen wurde?

Im zweiten Kapitel wird ein altes Thema entfaltet, nämlich „Die Grenzen Europas als geopolitische Herausforderung“. Darin findet sich, auf Deutschland bezogen, die Aussage, „ohne es zu wollen und ohne diese Position auf irgendeine Weise erstrebt zu haben“, sei „Deutschland im Verlauf der letzten zehn Jahre zur Zentralmacht der Europäischen Union geworden“ (S. 151). Auf sein eigenes, zehn Jahre altes Werk geht Münkler hierbei allerdings nicht ein, sondern bezieht sich auf das einschlägige Werk von Hans Peter Schwarz aus dem Jahre 1994.
Das Thema wird dann im dritten Kapitel weiter entfaltet: „Deutschland – die Macht der Mitte“. Hier kann man Kulturgeschichte und Geopolitik lernen, viel lesen vom deutschen Unbehagen mit der Mittelposition (S. 159 ff.) und der deutschen Suche „nach Mitte im Geistigen und Kulturellen“ (S. 167).

Kapitel 4 fragt nach „Hat der Westen eine Zukunft?“ und in Kapitel 5 wird nochmals nach der deutschen Führung in Europa gefragt. In diesem Kapitel entfaltet Münkler die Idee einer mehrstufigen Mitgliedschaft in der EU, die an das alte Narrativ vom Europa der zwei Geschwindigkeiten anknüpft. Münkler geht von einem Europa einer zwei- oder dreistufigen Mitgliedschaft aus und kritisiert das bisherige Hochhalten des acquis communautaire als „Kern und Angelpunkt einer exzessiven Bürokratisierung in der EU“ (S. 352).
Letzterem mag man wohl zustimmen, aber viel wäre bereits erreicht mit einer vernünftigen Kompetenzabgrenzung und einem Stopp des Vorrangs der Verordnung vor der Richtlinie, wie sie sich seit nun über 20 Jahren zeigt und wo neuerdings in anmaßender Weise der Begriff des „Act“, also des Gesetzes, für Verordnungen reklamiert wird – obwohl dies mit der Ablehnung des Verfassungsvertrags ebenfalls abgelehnt wurde. Ein mehrfach gestuftes Europa hingegen könnte genau die Lösung sein, um Staaten, denen man auch in Zukunft keine Vollmitgliedschaft in der EU anbieten kann, dennoch an diese zu binden und sich auch gegenseitig nichts von einer möglichen Vollmitgliedschaft vorzuspiegeln (Die spätere Vollmitgliedschaft einer Ukraine – der Rezensent pflegt hier seit Jahren von „Groß-Bulgarien“ zu sprechen, wäre hingegen eine Katastrophe). Münkler sieht in der Bildung von Kreisen um einen Kern der EU-Mitglieder auch die Möglichkeit, Ungarn das Agieren in der EU gegen sie unmöglich zu machen (S. 355). Die EU müsse nach Münklers Vorstellungen Verlässlichkeit mit Flexibilität verbinden (vgl. S. 357), was aber abhängig von der Schaffung eines Zentrums sei. Und hier wird dann die Führungsfähigkeit Deutschlands und seiner politischen Klasse einer kritischen Durchsicht unterworfen und festgestellt, dass deutsche Politiker die größten Defizite im Bereich der Initiative haben – was aber künftig in Europa durch die Führungsnation über den Rat erfolgen muss (S. 362). Als Beispiel für Führungsversagen wird etwa das Verhalten im Ukraine-Krieg gesehen: „Stattdessen hat man diese russischen Drohungen in der öffentlichen Debatte fortgesetzt gegen die Entscheidungen zur Unterstützung der Ukraine abgewogen und damit gezeigt, dass das nukleare Säbelrasseln des Kreml in Berlin erhebliche Wirkung zeitigte, Das war eine Einladung zu weiteren Eskalationsdrohungen aus Moskau, die aus Führungsverweigerung resultierte“ (S.366).

Insgesamt muss man nicht unbedingt der Meinung sein, dass Deutschland die geborene europäische Führungsnation ist, aber die Darstellungen Münklers sind doch zu 99 % nachvollziehbar und räumen mit mancher Fehlentwicklung auf, die in der Nach-Wendezeit bis heute zu beobachten war. Hierzu rechnet er etwa auch die Entwicklung der Bundeswehr zu einem „Parlamentsheer“

Im langen Vorwort des Bandes macht Münkler deutlich, dass es ihm um die Stärkung der politischen Urteilskraft von Bürgerinnen und Bürgern geht (S. 20). Hier darf man nur fragen, warum ein solches Werk – verbunden mit einem Autorennamen, der „zieht“ – , unbedingt 30 Euro kosten muss. Aller Inflation und aller Wertschätzung, die sich auch im Preis ausdrücken kann, zum Trotz: Wäre nicht auch hier die unmittelbare Veröffentlichung als Taschenbuch in hoher Auflage angezeigt gewesen? Autor und Verlag werden hier ihrer selbst gestellten Aufklärungsaufgabe nicht gerade gerecht. Gleichwohl: Bevor Leserinnen und Leser nun 42 Euro für Angela Merkel bei KiWi ausgeben: Hier bekommt man mehr fürs Geld – und nicht nur überhaupt Erkenntnis.

Herfried Münkler
Macht im Umbruch. Deutschlands Rolle in Europa und die herausforderungen des 21. Jahrhunderts
Rowohlt Verlag, 2025
432 Seiten; 30,00 Euro
ISBN: 9783737102155

Veröffentlicht von on März 17th, 2025 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

Hinterlassen Sie einen Kommentar!