Die Erinnerung an die deutsche Teilung hat mancherorts museale Züge angenommen. Oft vermischen sich Verklärung, Verdrängung und historische Faktizität. Im ehemaligen Grenzgebiet kurbelt der 3. Oktober den Fremdenverkehr an
Benedikt Vallendar
Heiligenstadt – Zugegeben, Tunnel sind nicht jedermanns Sache. Sie sind dunkel, eng und oft gibt es dort nur eingeschränkten Radioempfang. Doch Tunnel haben auch etwas Verbindendes. Sie bringen Menschen und Regionen zusammen, die durch hohe Zäune und Mauern voneinander getrennt waren. Ein solches Verbindungsstück ist der Haidkopftunnel, auch „Tunnel der deutschen Einheit“ genannt, auf der Südharzautobahn zwischen Göttingen und dem Heilbad Heiligenstadt in Thüringen. Heiligenstadt gilt als heimliche Hauptstadt des Eichsfeldes, der Haidkopftunnel als Großprojekt, in das nach der Wende hohe Summen für den „Aufbau Ost“ geflossen sind. Manche sehen ihn gar als Inbegriff zeitgenössischer Ingenieurskunst. Ohne Zweifel ist der gut ausgebaute Tunnel heute eine der modernsten und sichersten Verkehrsdurchgangsstrecken in Europa.
Authentische Erinnerungsorte
Die offiziellen Vereinigungsfeierlichkeiten zum 3. Oktober finden turnusmäßig in einer der 16 Landeshauptstädte statt. Doch passender wäre es, das Gedenken an die deutsche Wiedervereinigung vor 23 Jahren in ehemals grenznahe Orte zu verlegen, da dort noch am ehesten spürbar ist, was die Jahrzehnte der Teilung mit den Menschen gemacht haben. Geschichtsinteressierte können hautnah erfahren, welche teils absurden Szenerien sich bis zum Herbst 1989 im früheren Zonenrandgebiet abgespielt haben. Geschichten von Flucht und Verfolgung in der früheren DDR füllen mittlerweile Bücherregale. Buchhandlungen in Nähe der früheren Grenze und Berlin machen schon seit längerem gute Geschäfte mit Titeln rund um die Zeit der Teilung. Und hinter vorgehaltener Hand bedauert so mancher Touristenguide, dass nur noch „so wenig“ von Mauer und Stacheldraht übrig geblieben sei. Und wie „schön“ es doch wäre, mehr Authentisches aus der Zeit vor 1989 zeigen zu können.
Doch die fortschreitende Folklorisierung des 3. Oktobers folgt nicht überall denselben Gesetzmäßigkeiten. Heiligenstadt etwa ist ein beredtes Beispiel dafür, wie eine Stadt in der früheren DDR unter der Teilung gelitten hat. Jedes Jahr aufs Neue, zum 3. Oktober werden vor allem die Alteingesessenen schmerzlich daran erinnert. Doch nicht nur im Osten, auch im Westen, war die Teilung eine Wunde, an die sich kaum einer gewöhnen wollte. Wenige Kilometer östlich von Wolfenbüttel, der Stadt des deutschen Dichters und Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), war bis zum Herbst 1989 buchstäblich die „Welt zu Ende“. Wer konnte, zog weg. Gehöfte verfielen, die Natur holte sich das zurück, was ihr der Mensch durch Landschaftskultivierung über Jahrhunderte genommen hatte. Den Osten hielt derweil eine brutale Parteidiktatur im Zaum. Zu DDR-Zeiten war Heiligenstadt auch Sitz einer Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit, der „Stasi“ gewesen. Die Fahrt zur innerdeutschen
Grenze betrug nur wenige Autominuten. Das heutige Heilbad befand sich unweit des sieben Kilometer breiten Sperrgürtels, den nur ausgewählte Personen mit Sondergenehmigung betreten durften.
Seit 1990 hat sich der ehemalige Sperrgürtel zwischen Ost und West vielerorts zu einem wahren Touristenmagnet entwickelt. Honecker, Krenz und Co sind 1989 im Nirwana ihres untergehenden Staates verschwunden. Hier im Eichsfeld sind sie präsenter denn je. So mancher Fremdenführer kennt sich genauestens in ihren Lebensdaten aus. Denn viele der selbst ernannten Herrenmenschen aus dem SED-Politbüro waren einst eng in das Grenzregime involviert. Einige wurden später zu hohen Haftstrafen verurteilt, etwa der langjährige DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler, der sieben Jahre aufgebrummt bekam und heute DKP-Mitglied ist.
Im weiteren Sinne ist der 3. Oktober nicht nur ein nationaler Gedenktag, sondern auch ein fortwirkendes Fanal für die Überwindung diktatorischer Verhältnisse am Ende des 20. Jahrhunderts. Bei aller Freude, die sich an diesem Gedenktag alljährlich über Deutschland ausbreitet, schwingt immer auch ein Stück Erinnerung an das mit, was die DDR und ihr Unrechtsregime erst möglich gemacht haben. Opfer der SED-Diktatur beklagen zu Recht, dass das Kapitel „Stasi“ im Zuge der Euphorie über die überwundene Teilung immer mehr in den Hintergrund tritt. Denn mehr als bisher bekannt, hat der frühere DDR-Geheimdienst auch in der Provinz tiefe Wunden geschlagen. Geblieben sind Narben, die die Deutschen wahrscheinlich tiefer entzweien, als ihnen lieb ist. Für einen Westdeutschen ist allein schon der Gedanke abstrus, in jeder Kreisstadt könnte sich eine Filiale des Bundesamts für Verfassungsschutz, dem Inlandsgeheimdienst der Bundesrepublik, befinden, zudem noch mit regelmäßigen Kontakten zu Betrieben
, Behörden und Schulen. Für DDR-Bürger hingegen war es ein Stück Alltagsrealität, eine im Verborgenen arbeitende „Gedankenpolizei“, die sich allein für ihr politisches Denken interessierte, vor der Haustür zu haben. „In Heiligenstadt befand sich die Stasi-Kreisdienststelle in der Aegidienstraße, am südlichen Stadtende, wo heute ein Sozialdienst ist“, sagt Hans-Gerd Adler, Diplom-Ingenieur im Ruhestand und Chronist der deutsch-deutschen Geschichte im Eichsfeld. Adler ist auch Pressesprecher des Grenzmuseums Schifflersgrund, das alljährlich tausende Besucher aus der ganzen Welt anlockt. Eine Dauerausstellung dokumentiert den früheren Grenzverlauf. Etwas deplatziert wirken die alten russischen Militärjeeps, ausrangierte Hubschrauber der US-Armee und der nachgebaute Funkmast, die nur indirekt etwas mit der deutschen Teilung zu tun hatten. Sie wirken wie willkürlich in die Landschaft gestellt. „Hier kommen auch viele Oldtimerfreunde vorbei“, erklärt uns die Verkäuferin im nahe gelegenen Kiosk, wo auch allerlei Kitschkram, Wimpel, Spazierstöcke, Bierkrüge und Anstecknadeln mit Motiven aus dem Thüringer Wald zu haben sind. Einst gehörten Gebäude, Zaunreste und der Turm zu einem unbarmherzigen Grenzregime. Ein Arbeiter wurde bei Schifflersgrund im März 1982 bei einem Fluchtversuch aus Feuersalven diensttuender Grenzer niedergemäht. Die Täter nach der Wende wegen „Befehlsnotstand“ nur zu Bewährungsstrafen verurteilt. Heutzutage verkaufen an der Stelle geschäftstüchtige Gastronomen Hähnchenbroiler, Bier und scharfe Soßen. Am 3. Oktober erwarten sie wieder Busladungen geschichtsinteressierter Touristen, die auch die Kassen des örtlichen Hotel- und Gastgewerbes klingeln lassen dürften. Auch in Heilgenstadt. „Unweit der Stasizentrale stand früher das Gebäude der SED-Kreisleitung“, erklärt Hans-Gerd Adler. Noch immer steht vor dem Gebäude ein Glaskasten aus DDR-Zeiten. Wo früher Meldungen über Prämien an „Helden der Arbeit“ und „Planübererfüllungen“ prangten, informiert heute die örtliche Volkshochschule über ihr laufendes Programm. Die nach der Wende aufwändig renovierten Villen aus der Gründerzeit zeigen die gehobene Wohnlage, in der die lokale Parteiprominenz einst residierte.
„Tag der Heimat“
Auch die Kulturszene hat den deutschen Nationalfeiertag für sich entdeckt. Heinrich Heines Versepos „Deutschland. Ein Wintermärchen“ steht für den diesjährigen 3. Oktober im Programm des Landestheater Altenburg in Ostthüringen. Pressesprecherin Evelyn Böhme-Pock rechnet mit „vollem Haus“, wie in den Jahren zuvor. Altenburg hat sich längst zum Geheimtipp für Kulturbeflissene entwickelt. Weltweit bekannt wurde die Stadt zu Beginn der Fünfzigerjahre durch eine studentische Widerstandsgruppe gegen Stalin, die aus selbst gebastelten Apparaturen einen anti-kommunistischen Radiosender betrieben und Flugblätter verteilt hatte. Einige Gruppenmitglieder wurden später zum Tode verurteilt und in Moskau hingerichtet. In den letzten Jahren ist Altenburg wegen seiner agilen Neonaziszene wiederholt ins Gerede gekommen. Rechte Bands spielen regelmäßig in bestimmten Plattenbauvierteln der Stadt. Die Kulturbeauftragten sind daher bestrebt, mit einem „Gegenprogramm“ die andere Seite Altenburgs zu zeigen. „Heine ist Heimat. Aber was ist Heimat?“ steht verklausuliert im Ankündigungsheftchen für das Heine-Stück am 3. Oktober geschrieben. „Wie so vieles rund um den Begriff `Heimatliebe`, so ist auch die Heimat an sich in Verruf geraten“, heißt es da weiter. Wird die Heimat vielleicht überhaupt nur dem Reisenden, dem Entfremdeten zum Sehnsuchtsort? Der Begriff ist komplexer als gemeinhin angenommen. „Heines Heimat ist konkret und auch für Außenstehende fassbar“, erklärt indes PR-Chefin Böhme-Pock Heinrich Heine in seiner Bedeutung als deutscher Nationaldichter. Der im Kyffhäuser schlummernde Kaiser Barbarossa, der Kölner Dom und das heimische Sauerkraut, das seien alles „Insignien“, die vor allem Ausländer gerne mit Deutschland verbinden, sagt Böhme-Pock.
Doch zurück ins Eichsfeld. Bis heute ist es eine katholisch geprägte Enklave, im überwiegend atheistisch geprägten Osten der Bundesrepublik. Und wie kaum eine andere Region ist das Eiland ein Mikrokosmos im Vereinigungsprozess. Bis heute spielt das Eichsfeld eine Sonderrolle auf der religionspolitischen Landkarte des wiedervereinten Deutschland. Wer den knapp zwei Kilometer langen Haidkopftunnel durchquert hat, der spürt nach wenigen Autominuten auf Thüringer Seite: Das Katholische hat hier, „auf dem Eichsfeld“, tiefe Spuren hinterlassen. Kapellen, Klöster und Marienstatuen säumen Straßen und Dörfer in der pittoresken Landschaft. Auch junge Leute gehen hier sonntags in die Kirche, als Pärchen, in der Gruppe oder mit den eigenen, zumeist zahlreichen Kindern. Der katholische Glaube verbindet die Menschen in diesem Landstrich, der auch Teile Hessens umfasst, wie fast nirgendwo in der Bundesrepublik. Und fast nirgendwo scheint die Einheit Deutschlands gelungener als hier. Glaube versetzt offenbar nicht nur Berge. Er schüttet auch Gräben zu, baut Brücken und schafft tragfähige Fundamente für die Zukunft
Familientreffen am 3. Oktober
Hans-Geld Adler, Vater zweier erwachsener Töchter und mit einer Grundschullehrerin verheiratet, gehört zu den wenigen, früheren DDR-Bürgern, die ihrem katholischen Glauben bis heute treu geblieben sind. Bis heute verbinden die Adlers „mehr Positives als Negatives“ mit der deutschen Wiedervereinigung, sagen sie. Dabei hätte der Vater eigentlich allen Grund zum Klagen. Mehrere Jahre war Hans-Gerd Adler nach der Wende arbeitslos, trotz guter Ausbildung. Der damals Mittfünfziger hangelte sich von Maßnahme zu Maßnahme, nahm Zeitverträge an und ging irgendwann, unter Inkaufnahme finanzieller Abstriche, in Rente. Seither kümmert sich der heute 72-Jährige um sein Haus und den Garten, den er schon zu DDR-Zeiten angelegt und dort viel Zeit mit der Familie verbracht hat, wie er sagt. „Wir konnten ja nicht reisen“, sagt Adler. Da mussten wir kreativ sein und sind eben zu Hause geblieben“. Kürzlich haben sie sich einen VW-Golf zugelegt. Seine ältere Tochter hat nach der Wende Ethnologie studiert und einen Muslim aus Katar geheiratet. „Ein wunderbarer Schwiegersohn“, schwärmt Frau Adler. Der 3. Oktober ist bei Adlers immer auch Familientreff, da sie mit dem Datum fast noch mehr verbinden als mit den christlichen Feiertagen. Von ihrem Balkon aus man einen wunderbaren Blick auf die weitläufigen Täler und Hügel des Eichsfeldes. Als exterritoriales Gebiet des Fürstbistums Mainz, dessen Wagenrad das Eichsfeld von jeher im Wappen führt, teilte es sich zu DDR-Zeiten in eine Ost- und Westhälfte, die die Region um Duderstadt in Niedersachsen umfasste. Von ihrer engen, historischen Bindung an die Pfalz profitierte die Region vor allem nach dem Fall der Mauer. Als „Westimport“ aus Rheinland-Pfalz legte ab 1990 Bernhard Vogel in seiner Funktion als CDU-Regierungschef in Erfurt die Grundlagen für ein wirtschaftliches Wiedererstarken in der Mitte Europas. Und ohne sein Wirken wäre wohl auch der „Tunnel der deutschen Einheit“ nur ein Traum geblieben.
Also der Sozialismus unterdrückt die Menschen, aber der Katholizismus führt die Menschen zusammen? Das kann man so sehen – oder auch genau umgekehrt. Wie war das noch gleich mit den Kreuzzügen und den Konquistadoren und den sexuellen Übergriffen in den Klöstern und Schulen? Und wer hat auf der anderen Seite den Unterdrückten und Entrechteten in der ganzen Welt Kraft und Hoffnung gegeben? Man kann es drehen und wenden, wie man will: Solche Verallgemeinerungen sind immer problematisch. Es kommt einfach immer drauf an, und überall gibt es solche und solche… Nein, die DDR-Kommunisten sollte man wirklich nicht in Schutz nehmen. Aber „selbsternannte Herrenmenschen“ waren sie dann doch nicht. Das waren ihre 12 Jahre lang in Deutschland regierenden Vorgänger. Hier scheint der Autor etwas zu verwechseln.