LSD und rote Fahnen

Der fulminante historische Roman „Lilka Eule“ von Cordt Schnibben

Thomas Claer

Wer mit 20 kein Sozialist sei, so besagt es ein geflügeltes Wort unbekannter Herkunft, der habe kein Herz, aber wer es mit 30 immer noch sei, der habe keinen Verstand. Cordt Schnibben, namhafter langjähriger SPIEGElL-Reporter, hat beides bewiesen, indem er als zwanzigjähriger Abiturient und schwärmerischer Jungkommunist aus Bremen für ein Jahr auf einer DDR-Parteischule in Ost-Berlin Marxismus/Leninismus studierte (was ihm anschließend sogar von der Uni Bremen für sein Wirtschafts-Studium angerechnet wurde!) und 17 Jahre später dann unmittelbar nach dem Mauerfall als geläuterter Renegat quasi an seine alte Wirkungsstätte zurückkehrte und von dort exklusiv für sein Nachrichtenmagazin über die sich anbahnende Deutsche Wiedervereinigung berichtete. Nun hat er mit Anfang 70 sein bewegtes Leben zu einem Roman verarbeitet, dessen Handlung – wie er freimütig eingeräumt hat – nur zu 30 Prozent fiktiv, aber zu 70 Prozent von ihm selbst erlebt worden sei. Nicht zuletzt an diesen aus eigener Erfahrung entstandenen 70 Prozent liegt es vermutlich, dass ihm dieser Roman so überaus gut gelungen ist.

Allerdings muss ich bereits an dieser Stelle meiner Besprechung einräumen, dass mir eine „objektive Rezension“ dieses Buches vollkommen unmöglich ist, da ich mich in zu vieler Hinsicht für historisch und biographisch befangen erklären muss – und das als zwei Jahrzehnte nach dem Autor in Ostdeutschland Geborener. Doch bei der Schilderung so viele Orte und Mentalitäten im Roman hat mich ein Deja vu nach dem anderen überfallen. Allein bei den ganzen Drogen-Geschichten kann ich nicht mitreden. So ziemlich alles andere aber ist mir bestens vertraut: Im titelgebenden legendären Bremer Club „Lila Eule“ im Steintorviertel habe ich mir (nach unserer Übersiedlung in den Westen 1989) als Abiturient und Zivi in den frühen Neunzigern so manche Nacht um die Ohren geschlagen. Auf dem „Mädchengymnasium in Schwachhausen“, das eine der Hauptfiguren des Romans besucht, habe ich selbst mein Abitur abgelegt. (Seit 1971 stand die Schule auch männlichen Schülern offen.) Und natürlich bewegte auch ich mich dort – so wie 20 Jahre zuvor der Autor und sein Alter Ego im Roman – in Kreisen, wo sich Coolness und Ansehen in erster Linie über den eigenen ausdiffernzierten (Pop-) Musikgeschmack definierten. In Berlin wiederum wohnt die Geliebte des Protagonisten im Hochhaus Holzmarktstraße 2 am S-Bahnhof Jannowitzbrücke in Mitte, wo ich jahrelang ausgestiegen bin, um meine Studenten an der IU am Rolandufer zu unterrichteten. Noch dazu habe ich mir genau dieses Hochhaus damals sehr genau angesehen, da in ihm zu jener Zeit zwei kleine Einzimmerwohnungen zum Verkauf standen, aber irgendwann war das Angebot wieder weg. Und auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof mit den Gräbern so vieler Prominenter, wo der Roman-Protagonist wie im einschlägigen Wolf-Biermann-Song seine Geliebte trifft, bin ich ebenfalls oft gewesen. Um von meiner jugendlichen Aufgeschlossenheit für den Kommunismus und weitere Weltverbesserungsbewegungen gar nicht erst zu reden…

Doch nun endlich zum Roman selbst: Die Handlung bewegt sich – das ist der raffinierten erzählerischen Konstruktion geschuldet – abwechselnd und parallel in drei verschiedenen Zeiträumen: Mitte der Sechziger in Bremen, 1972 in Ost-Berlin und im Herbst 1989 in Berlin nach dem Mauerfall. Und sie endet bereits Anfang 1990, wo sich vieles, was dann später noch kommen wird, erst andeutet. Es geht um wilde Agentengeschichten, um ganz viel Rockmusik von den Rolling Stones und anderen, später dann auch um Techno-Musik in den maroden Kellern Ost-Berlins und die Rolle von Günter Schabowski hinter den Kulissen. Immer wieder spielen auch Drogen eine Rolle. Im Zentrum des Romans steht dennoch die unerschütterliche, nur vorübergehend erfüllte, später dann von der Stasi verhinderte Liebe des Ich-Erzählers zu Mara, einem Ost-Mädchen aus einer Parteiaristokraten-Familie. 17 Jahre nach ihrer letzten Begegnung macht er sich auf die Suche nach ihr, und erst ganz am Ende des spannungsreichen Romans kommt er ihr auf die Spur…

Alles ist so lebendig erzählt, als ob jemand, der gut schreiben kann, es selbst erlebt hätte, was ja auch weitgehend der Fall ist. Nur fragt man sich beim Lesen ständig, was wohl die 30 Prozent sein könnten, die der Verfasser dazuerfunden hat. Die fast schon innige Beziehung, die der noch junge Roman-Held an der Parteischule zu seiner strengen Dozentin Anneliese aufbaut? Hier könnte der Autor womöglich etwas übertrieben haben. Aber weiß man’s? Dass seine alten Bremer Rockmusik-Freunde später als Techno-DJs in Berlin wieder auftauchen, ist vielleicht auch nicht so ganz plausibel. Sicher erscheint nur, dass ein Referat über die Rolle von LSD im Klassenkamnpf an der Staatlichen Parteischule in Biesdorf tatsächlich wohl nicht erlaubt worden wäre und wohl auch die anschließende versehentliche Einnahme dieser Substanz durch alle Beteiligten in der Wirklichkeit so nicht passiert wäre.

Der Roman ist trotz seiner poppigen Aufmachung (mit großartigen psychedelischen Mustern und Illustrationen versehen) alles andere als oberflächlich, vielmehr tiefschürfend und facettenreich, dazu flott und anschaulich geschrieben. Und man wünscht ihm gerade in unserer aufgewühlten Gegenwart viele Leser – insbesondere auch solche aus den nachgewachsenen Generationen.

Cordt Schnibben
Lila Eule. Der Ostwest-LSD-Beatckub-Roman
Correctiv Verlag, 1. Auflage 2025
524 Seiten; 29,00 Euro
ISBN: 978-3-948013-30-1

Veröffentlicht von on Nov. 10th, 2025 und gespeichert unter DR. CLAER EMPFIEHLT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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