Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
du meine Güte, was waren unsere Jura-Vorlesungen damals langweilig! Doch führten die sich so unendlich in die Länge ziehenden, weil wenig Interessantes oder auch nur Verständliches vermittelnden Vor- und Nachmittage im Hörsaal geradezu unvermeidlich dazu, dass so mancher der dort ausharrenden angehenden Juristen früher oder später die Neigung verspürte, sich mit ganz anderen Dingen als den eigentlich vorgesehenen zu beschäftigen. Wohlgemerkt: Smartphones und dergleichen waren seinerzeit, vor zwei Jahrzehnten, noch nicht erfunden! Da saß man also zwischen hunderten zumeist schönen und oftmals auch noch regelrecht herausgeputzten jungen Menschen – besonders die Jura-Studentinnen standen in einem solchen Ruf – und ließ, wenn man mal wieder nichts verstanden hatte, etwas verschämt seine Blicke durch die vollbesetzten Reihen schweifen. Es hatte schon etwas Beruhigendes, wenn man dann feststellte, dass man, dem Ausdruck der Gesichter nach, in seinem Unverständnis keineswegs allein war. Immerhin einige schienen unbeirrbar konzentriert zuzuhören, andere saßen wohl nur so da und träumten vor sich hin, viele unterhielten sich auch mit ihren Nachbarn, wobei die Lautstärke und die Unverblümtheit, mit der sie das taten, von der Autorität des jeweils Vortragenden vorne am Mikrofon abhingen. Doch war dieses aus der Verlegenheit geborene, notwendigerweise ausgedehnte Betrachten insbesondere ganz bestimmter Kommilitoninnen, heute kann ich es ja zugeben, unter den damaligen Umständen, in den unteren Semestern war ich noch Single, nicht ganz ohne Reiz für mich…
Wie mag so etwas wohl, so frage ich mich manchmal, mit den heutigen technischen Möglichkeiten ablaufen? Vor ein paar Monaten las ich in der Zeitung einen längeren Beitrag über die revolutionäre Smartphone-App „Tinder“, die hierzulande unter den jungen Leuten angeblich schon sehr verbreitet ist. Diese App zeigt einem ganz automatisch alle flirtbereiten Mitmenschen im Umkreis von zweihundert oder wahlweise fünfhundert Metern an, sofern diese ebenfalls bei „Tinder“ angemeldet sind. Nacheinander werden einem dann die passendsten Profile mit Foto angezeigt, und ganz nach Belieben wischt man sie entweder weg oder chattet eine Runde mit ihnen. Sobald einer langweilt oder nervt, wischt man ihn zur Seite und wendet sich dem Nächsten zu. Nun lässt sich natürlich kein besserer Ort für diesen Zeitvertreib vorstellen als ein vollbesetzter Hörsaal in der Uni. Kein Zweifel, ausgerüstet mit Smartphone und Tinder-App ließen sich auch die langweiligsten Vorlesungen spielend überstehen. Und hinterher trifft man dann seinen Online-Flirt von ein paar Reihen weiter ganz real in der Mensa. Ja, das Studentenleben muss heutzutage schon lustig sein…
Aber das Beste kommt noch: Tinder ist völlig kostenlos. Kostenpflichtig ist es nur für alle ab 40. Klar, wer in so fortgeschrittenem Alter da noch mitmischen will, der soll gefälligst blechen, und das bitte für alle Jüngeren gleich noch mit. Egal, ich werde mir auch weiterhin kein Smartphone kaufen. Aber wenn ich mir vorstelle, ich hätte damals im Studium eins gehabt und dann noch die Tinder-App… Es kommt eben nicht nur darauf an, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, sondern auch noch darauf, über die richtige technische Ausrüstung zu verfügen.
Dein Johannes