Ein persönlicher Rückblick
Thomas Claer
Es war der Bundestagswahlkampf 1980. Alles kreiste um die Frage: Schmidt oder Strauß – wer bleibt oder wird Bundeskanzler? Für einen achtjährigen westfernsehbegeisterten DDR-Jungen wie mich gab es damals kaum etwas Interessantes als die Innenpolitik unseres Klassenfeindes, denn die sozialistische Langeweile „bei uns“ war für mich schon als Kind nur schwer zu ertragen. Ich befragte also alle meine Freunde, Mitschüler, Verwandten und Bekannten, ob sie für Schmidt oder für Strauß seien und bekam zu meiner großen Zufriedenheit meistens zu hören: „Für Schmidt natürlich.“ Einige sagten aber auch: „Ist mir doch egal.“ Keiner schien für Strauß zu sein, aber das könnte auch daran gelegen haben, dass es manche als zu riskant empfanden, sich einfach so zum aus offizieller DDR-Sicht ungünstigeren Kandidaten zu bekennen. Noch wahrscheinlicher ist wohl, dass es in der DDR eine große Sympathie für die Entspannungspolitik der SPD-Kanzler, die immerhin zu deutlichen Reiseerleichterungen geführt hatte, und auch für die Person von Helmut Schmidt gab. Er galt als Staatsmann von Format, insbesondere im Vergleich zu unserem blassen und hölzernen Generalsekretär Erich Honecker, der in seinen Reden immer auf so drollige Weise die Silben verschluckte.
Mit Honecker war ich schon im Kindergarten vertraut. Er und sein Stellvertreter Willi Stoph hingen dort eingerahmt und unübersehbar an der Wand. In den täglichen „Beschäftigungen“, so nannten die Kindergärtnerinnen ihre Versuche, uns etwas beizubringen, fragten sie uns manchmal, während sie auf die besagten Bilder zeigten: „Wer ist das?“ Zwar konnte wohl jeder Erich Honecker benennen, doch gab es, was unsere Erzieherinnen sichtlich erboste, gewisse Schwierigkeiten mit seinem Stellvertreter Willi Stoph, was an dessen frappierender Ähnlichkeit mit dem Heizer unseres Kindergartens lag, einem gewissen Herrn Nechels. Stets antworteten wir auf die Frage, wer denn der Mann auf dem Bild neben Honecker sei, wie aus einem Munde: „Herr Nechels!“ Unsere Erzieherinnen fanden das allerdings gar nicht witzig und machten sich offenbar ernsthafte Sorgen, dass wir sie mit dieser Antwort blamieren könnten, sollte einmal, was tatsächlich ab und zu der Fall war, Besuch von irgendwelchen Bildungsfunktionären in unseren Kindergarten kommen. Noch heute sind mir ihre warnenden Worte im Ohr. „Und dass KEINER von euch sagt, das auf dem Bild ist Herr Nechels!“
Aber zurück zu Helmut Schmidt. Unvergesslich ist mir sein Staatsbesuch bei Erich Honecker 1981, bei dem er unter anderem auch das Ernst Barlach-Museum im ganz in der Nähe meiner Heimatstadt gelegenen Güstrow besuchte. Schon Tage vorher wurde die Umgebung Güstrows weiträumig abgesperrt, niemand durfte mehr die Straßen befahren. Es herrschte eine Art Ausnahmezustand, so ähnlich wie vor ein paar Jahren beim G7-Treffen in Heiligendamm oder jetzt in Paris nach dem jüngsten Terrorakt. Auf keinen Fall sollte Helmut Schmidt einem nicht eigens dafür präparierten DDR-Bürger begegnen. Beim Betrachten der Fernsehbilder von dieser winterlichen Begegnung – Honecker mit Pelz- und Schmidt mit Prinz-Heinrich-Mütze – ertappte ich mich bei dem Gedanken, ich weiß noch genau, dass ich mich dabei etwas unangenehm fühlte, dass mir der West-Kanzler Schmidt deutlich besser gefiel als unser großer Vorsitzender… Und das, obwohl Helmut Schmidt damals unentwegt Bonbons lutschte, weil er – man mag es heute kaum glauben! – mit dem Rauchen aufhören wollte, was einigermaßen lächerlich wirkte. An dieses Detail – Schmidt wollte mal ernsthaft mit dem Rauchen aufhören! – hat sich, soweit ich sehe, später nie wieder jemand erinnert.
Wie im Westen wurde Helmut Schmidt auch in der DDR aus durchaus unterschiedlichen Gründen verehrt. Mein Onkel Karl, der schon etwas älter war, meinte – es muss wohl kurz nach dem Regierungswechsel 1982/83 gewesen sein – auf meine Frage, wen er denn besser finde, Helmut Schmidt oder seinen Nachfolger Helmut Kohl: „Der Schmidt hat noch den Krieg mitgemacht und der Kohl nicht, das ist der Unterschied.“ Wobei mein Onkel Karl in vieler Hinsicht etwas eigenwillige Ansichten vertrat. Als ich ihn neugierig nach seiner Meinung über die damals noch recht junge Partei der GRÜNEN befragte, erklärte er mir, dass er als Mediziner dazu nur sagen könne, dass so wie ein einzelner Organismus auch ein ganzer Staat von Krebszellen befallen werden könne, und die GRÜNEN seien so ein Krebsgeschwür, aber es werde sie bestimmt nicht lange geben…
Überhaupt der Regierungswechsel 1982/83. Ich kann nicht von mir behaupten, dass ich damals als Elfjähriger viel von den Gründen und Hintergründen, die zu ihm führten, verstanden hätte. Bei mir kam es eher so an, dass der von mir so verehrte Schmidt von seinem verräterischen Kollegen Genscher hinterrücks gemeuchelt wurde, damit dieser dann mit dem verhassten Erzrivalen Kohl gemeinsame Sache machen konnte.
Einige Jahre später führte mich dann die Jugendweihefahrt meiner Schulklasse 1987 nach Minsk, das damals noch in der Sowjetunion lag, die gerade vom großen Reformer an der Staatsspitze, Michail Gorbatschow, so richtig durchgeschüttelt wurde. Und im Minsker Hotel Jubilejnaja, das es laut Google auch heute noch gibt, konnte ich mir – was mich ungemein beglückte – zum ersten Mal im Leben eine „Süddeutsche Zeitung“ und einen „Vorwärts“ (das war die SPD-Parteizeitung) kaufen. Natürlich habe ich beide sogleich regelrecht verschlungen, und zwar komplett von vorne bis hinten mehrmals nacheinander. Neben vielem anderen Interessanten fand ich im „Vorwärts“ eine Rezension von Helmut Schmidts erstem großen Bucherfolg als Kanzler a.D., „Menschen und Mächte“. Fortan war ich ausgesprochen scharf auf dieses Buch, doch ich musste noch etwas darauf warten, denn wie sollte man ein solches Werk in die DDR befördern?
Nun hatte sich aber zu jener Zeit mein Vater bereits in den Westen abgesetzt, während ich gemeinsam mit meiner Mutter geduldig auf die positive Bescheidung unseres Ausreiseantrags auf Familienzusammenführung durch die DDR-Behörden wartete. (Sie ließen uns erst nach zweieinhalb Jahren im Frühling 1989 ausreisen.) Meine Eltern benutzten in ihren Briefen aneinander, um die stets mitlesende Stasi zu düpieren, oft eine Art Geheimcode. So bezeichnete mein Vater einen ebenfalls früheren DDR-Bürger namens Kleine, mit dem er sich im Westen manchmal traf, als „Parvus“, was auf Lateinisch „klein“ bedeutet. Als Jugendlicher fand ich so etwas sehr aufregend und wollte mich an dergleichen auch versuchen, weshalb ich meinem Vater in Bremen als meinen Weihnachtswunsch schrieb: das Buch „Menschen und Mächte“ von – um den Namen des Altkanzlers zu vermeiden – „Dunkelfeige S.“. Doch leider kapierte mein Vater diesen Umkehrungs-Code nicht und schrieb mir zurück: „Den Autor Dunkelfeige S. gibt es nicht. Es gibt nur ein Buch ‚Menschen und Mächte‘ von Helmut Schmidt, ehemals Bundeskanzler.“ Trotz dieser Kommunikationspanne kam ich aber doch noch an das ersehnte Buch. Onkel Fritz, einem alten Schulfreund meines Vaters, wurde von den staatlichen Stellen zu jener Zeit eine Westreise erlaubt, bei der er natürlich auch meinen Vater besuchte, der das Buchgeschenk für mich an ihn weitergab. Irgendwie gelang es Onkel Fritz, das Buch, für das er sich auch selbst sehr interessierte, auf seiner Rückreise über die Grenze zu schmuggeln. Eine Woche später trafen wir dann Onkel Fritz in Rostock zur Buchübergabe. Er hatte das über 500 Seiten starke Werk schon komplett durchgelesen, als er es mir feierlich überreichte. Für mich war „Menschen und Mächte“ dann eine Art Einführung in das westliche politische Denken, für einen Sechzehnjährigen keine schlechte Lektüre. Später im Westen habe ich dann jedoch kein weiteres Buch mehr von Helmut Schmidt gelesen – es gab einfach zu viel anderes! Seine Talkshowauftritte allerdings habe ich in all den Jahren nur selten verpasst. Am letzten Donnerstag ist Helmut Schmidt im biblischen Alter von 96 Jahren den Weg alles Irdischen gegangen.