Selbstjustiz im rechtsfreien Raum

Recht cineastisch, Teil 25: „Dheepan – Dämonen und Wunder“ ist großes Kino!

Thomas Claer

dheepan2Was gehen uns die Tamilen in Sri Lanka an? So hätte man vielleicht noch vor wenigen Jahrzehnten mit einer gewissen Berechtigung fragen können. In der globalisierten Welt, die wir heute bewohnen, spielen räumliche und kulturelle Entfernungen aber längst keine Rolle mehr, wenn die Probleme im einen Teil unseres Planeten auf manchmal unheilvolle Weise mit denen in ganz anderen Regionen interagieren.

Der tamilische Rebellenkämpfer Dheepan (Jesuthasan Antonythasan) sieht nach dem Tod seiner Frau und seiner Kinder keine Zukunft mehr für sich in seiner Heimat Sri Lanka. Um in Frankreich bessere Chancen auf Asyl zu haben, schließt er sich mit der jungen Frau Yalini (Kalieaswari Srinivasan) und dem Waisenmädchen Illayaal (Claudine Vinasithamby) zusammen. Die Drei geben sich bei den französischen Behörden als eine Familie aus – und kommen damit durch. Nach mühsamen Anfängen als Straßenverkäufer wird Dheepan Hausmeister in einer Sozialbausiedlung am Pariser Stadtrand, also in den berüchtigten Banlieues. Dort findet auch Yalini einen Job als Betreuerin eines dementen Anwohners, die kleine Illayaal geht in die Schule. Sie beziehen eine einfache Wohnung, die ihnen ganz wunderbar vorkommt: ein Dach über dem Kopf, trinkbares fließendes Wasser, Zentralheizung, elektrisches Licht, gut schließende Fenster, eine grüne Umgebung – was will man mehr? Vor allem Yalini ist geradezu begeistert von der ihr äußerst großzügig erscheinenden Bezahlung für ihre Pflegetätigkeit von monatlich 500 Euro, die sie gedanklich in ihre Heimatwährung umrechnet…

Allerdings wissen nicht alle Bewohner der Sozialbausiedlung solche Annehmlichkeiten zu schätzen. In fast jeder Nacht gibt es unzählige Zerstörungen in den Häuserblocks und im öffentlichen Raum, sodass Hausmeister Dheepan eigentlich ständig mit Reparaturarbeiten beschäftigt ist. Wenn Yalini auf die Straße geht, wird sie von den überall unproduktiv herumhängenden Männern angestarrt, weil sie als einzige Frau kein Kopftuch trägt. (Auf Anraten von Dheepan – „Wir sind neu hier und müssen uns anpassen.“ – läuft sie bald nur noch verschleiert herum.) Die Neuankömmlinge müssen sich eingestehen, dass sie in einem sozialen Brennpunkt, einem Zentrum des Drogenhandels und sonstiger organisierter Kriminalität gelandet sind. Immer wieder liefern sich rivalisierende Banden Schießereien auf offener Straße. Für die Polizei ist die Gegend offenbar längst eine No-go-Area. Für Dheepan, Yalini und Illayaal ist es in diesem Teil von Paris kaum weniger gefährlich als in ihrer Heimat. Als Yalini durch eine Verkettung unglücklicher Umstände in den Bandenkrieg hineingezogen wird, bahnt Dheepan sich in alter Kämpfermanier gewaltsam einen Weg durch die Drogenbandenfront und kann so Yalini befreien und zugleich ihr Herz gewinnen, so dass aus der anfänglichen Zweckgemeinschaft noch eine „richtige Familie“ wird. Die letzten Einstellungen des Films lassen erahnen, dass den drei engagierten Migranten schließlich auch noch ein Neubeginn außerhalb der Banlieus gelingt.

An Jacques Audiards Film scheiden sich die Geister. Ausgezeichnet mit der Goldenen Palme in Cannes und dort mit Lob überschüttet, musste er sich von anderen Kommentatoren, zuletzt in der Rezension der Süddeutschen Zeitung, auch den Vorwurf gefallen lassen, in ihm realisiere sich die „perverse Phantasie“ von Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, die Straßen der Banlieus mit dem Hochdruckreiniger von dem dort herumstreunenden Gesindel zu reinigen. Und in der Tat, lässt sich der Film denn nicht auch so verstehen? Ein tamilischer Kämpfer tut endlich das, was sich viele Franzosen insgeheim wünschen. Er räumt – wenigstens für einen Moment – mal auf mit diesem Islamisten-Drogenhändler-Faulenzer-Gesocks. Die fleißigen, genügsamen, anpassungsbereiten Asiaten, die schaffen es in kurzer Zeit und machen nie Probleme. Aber dieses Pack aus Afrika und Arabien, das nur dem Staat auf der Tasche liegt und in einer notorisch kriminellen Parallelgesellschaft lebt, das müsste man am besten aus Frankreich rausschmeißen. Marine Le Pen lässt grüßen. Und Sarkozy ist auch nicht weit davon entfernt…

Man muss diesen Film unbedingt vor einer solchen Interpretation in Schutz nehmen. Wenn sich Politiker, die stets „dem ganzen Volk“ verpflichtet sind, herablassend über die Bewohner konkreter Stadtbezirke äußern, dann ist das immer kritikwürdig, auch wenn sich in diesen bestimmte Probleme konzentrieren. Denn sie verraten dadurch den rechtsstaatlichen Grundsatz, dass kein Individuum allein als Angehöriger bestimmter Kollektive beurteilt werden darf. Ein Film hingegen erzählt nur eine Geschichte, hier ist jede Subjektivität nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. Und wäre denn irgendjemandem geholfen, wenn man den „Realismus“ dieses Films durch eine politisch korrektere geschönte Darstellung ersetzte? Außerdem ist der Film so einseitig nun auch wieder nicht. Die Protagonisten begegnen in der Sozialsiedlung sogar vielfach netten und hilfsbereiten Anwohnern, die genauso wie sie unter dem Terror der Drogenbanden zu leiden haben. Insofern ist es doch auch ganz im Sinne vieler Banlieu-Bewohner, wenn ein Film einmal den Finger in diese Wunde legt.

Aber wenn nicht alles täuscht, dann hat auch die französische Politik längst die Signale gehört. Bald werden die Bauarbeiten zu einem bisher beispiellosen Ausbauprogramm der Pariser Metro beginnen, so dass spätestens in 15 Jahren jede Banlieu ihre schnelle Verbindung ins Zentrum von Paris haben wird. Spätestens dann werden die Bewohner entdecken, dass sich mit der Wohnungsvermietung an Touristen über Airbnb und Co. auch andere lukrative Geschäftsbereiche jenseits des Drogenhandels ergeben. Doch damit das funktioniert, müssen diese Bezirke sicherer werden, und hierzu braucht es eine Bürgergesellschaft aus aufgeschlossenen Anwohnern und Zugezogenen. So können aus No-go-Areas plötzlich gefragte Wohnlagen werden. Andere Städte haben es doch vorgemacht…

Dheepan – Dämonen und Wunder
Frankreich 2015
Regie: Jacques Audiard
Drehbuch: Jacques Audiard, Thomas Bidegain, Noé Debré
109 min, FSK: 16
Darsteller: Jesuthasan Antonythasan, Kalieaswari Srinivasan, Claudine Vinasithamby u.a.

Veröffentlicht von on Dez. 21st, 2015 und gespeichert unter DRUM HERUM, RECHT CINEASTISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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