Analog war besser

Scheiben Spezial: 30 Jahre Tocotronic-Platten im Rückspiegel

Thomas Claer

Lässt man die nunmehr drei Jahrzehnte seit Erscheinen der Debüt-Platte der anfangs als alternative Boygroup gehandelten, enorm stilprägenfden und einflussreichen Band Tocotronic Revue passieren, dann könnte man deren Wirken grob gesagt in zwei Phasen unterteilen: in ihr wirklich grandioses Frühwerk in den Neunzigern, jener mythenumrankten, noch vordigitalen Ära, und in die eher durchwachsene Zeit danach mit gelegentlichen Tief-, aber auch Höhepunkten. Aus fünf CDs besteht wiederum das besagte Frühwerk, die zum Teil durchaus verschieden, aber alle noch sicher auf der richtigen Seite stehend waren.

Es begann im März 1995 mit ihrem Debut „Digital ist besser“, auf dem sich die drei Trainingsjackenträger mit den exzentrischen Volahiku-Frisuren noch dem ungezügelten und lärmigen Gitarrenrock verschrieben hatten. Sehr gelungen war dann auch das nur wenige Monate später nachgeschobene Mini-Album „Nach der verlorenen Zeit“, das insgesamt etwas weniger brachial und dafür noch ausgefeilter im Songwriting wirkte. Das dritte Album „Wir kommen um uns zu beschweren“ (1996) setzte den Weg der beiden Vorgängerplatten fort, ließ aber dabei bereits leichte Ermüdungserscheinungen erkennen. Und so erfolgte auf dem vierten Album „Es ist egal, aber“ (1997) erstmals ein stilistischer Wandel, indem nun zusätzliche Instrumente wie Mundharmonika und Streicher in den Gitarre-Bass-Schlagzeug-Klangkosmos aufgenommen, die temperamentvollen Lärmeinschübe aber beibehalten wurden. Es mag Ansichtssache sein, aber für mich haben sie nie eine überzeugendere Platte aufgenommen als „Es ist egal, aber“. Von nun an ging es mit ihnen bergab, wenn auch zunächst nur ganz langsam. Ihr fünftes Album „K.O.O-K. (1999) war noch ein Stück experimenteller als sein Vorgänger, enthielt aber gleichwohl so viel vom Spirit der frühen Jahre, dass man es ganz eindeutig noch zum Frühwerk der Band rechnen kann.

Das gilt aber für die Folgewerke im neuen Jahrtausend bereits nicht mehr. Das Weiße Album (2002) war überladen mit technischen Mätzchen. Wieder etwas besser wurde es auf „Pure Vernunft darf niemals siegen (2005), doch der Charme der frühen Jahre kehrte darauf nicht mehr zurück. Als ihr bestes Album der Nullerjahre lässt sich ihre nächste Platte „Kapitulation“ (2007) ansehen, das wir seinerzeit als erstes Toco-Album in dieser Rubrik unter der Überschrift „Fast wie früher“ recht enthusiastisch besprochen haben. Doch markierte das anschließende, vollkommen überproduzierte „Schall und Wahn“ (2010) dann leider einen markanten Tiefpunkt. Danach ging es auf und ab. „Wie wir leben wollen“ (2013) ließ Aufwärtstendenzen erkennen, doch das seichte Rote Album (2015) lässt sich wohl nur als erneurter Tiefpunkt bezeichnen. Dafür waren die jüngsten drei Alben dann wieder stärker, nämlich „Die Unendlichkeit“ (2018), „Nie wieder Krieg“ (2022) und „Golden Years“ (2025). Wir wünschen Tocotronic noch viel Schaffenskraft für die nächsten 30 Jahre!

Veröffentlicht von on Aug. 11th, 2025 und gespeichert unter SCHEIBEN VOR GERICHT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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