Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
eigentlich wollte ich nie nach Berlin. Es hat sich einfach so ergeben. Ich wollte früher überhaupt nirgendwo anders hin. Wenn ich irgendwo war und mich dort eingerichtet hatte, und ich war an den verschiedensten Orten, weil ich in meinem noch früheren Leben wirklich oft umgezogen bin, dann wollte ich da am liebsten möglichst lange bleiben. Nun heißt es sprichwörtlich, dass man manchmal zu seinem Glück gezwungen werden muss. Zu etwas zwingen lassen wollte ich mich aber nie, das war mir immer besonders wichtig. Dann schon lieber verführen lassen… Manchmal ist es aber auch der umgekehrte Effekt. Wenn alle sagen: „Mach das bloß nicht!“, dann spricht dies oft dafür, genau das zu tun, wovon einem so vehement abgeraten wird. So war es damals, als meine Frau und ich unserem Studienort den Rücken kehrten und Hals über Kopf nach Berlin zogen. In erster Linie hatte ich mich von meiner Frau dazu überreden lassen, die es in der kleinen Stadt, die von den Einheimischen seltsamerweise als Metropole bezeichnet wurde, nicht mehr aushielt und außerdem besonderen Wert darauf legte, möglichst weit weg von meinen Eltern zu leben. Für mich, der ich eigentlich möglichst wenig umziehen wollte, war die Aussicht auf Berlin dennoch irgendwie reizvoll. Klar, ich hatte die einschlägigen Bücher gelesen, und dort lockte das freie, aufregende Leben. Aber die Ungewissheit, wovon wir da leben sollten, machte mir schon etwas Angst. Viele Bekannte meiner Frau, alles Geisteswissenschaftler, waren schon nach Berlin gegangen, aber niemand von meinen Juristen-Freunden und Kommilitonen. Schließlich gab es damals, kurz nach der Jahrtausendwende, absolut keine Jobs in Berlin. Es herrschte Katerstimmung nach der verflogenen Millenniumseuphorie. Die Dotcom-Blase war geplatzt, und viele Startups hatten aufgegeben. „Wie kann man denn ohne konkrete berufliche Aussicht einfach irgendwo hinziehen?“, fragten mich meine Freunde, von denen ich mich bereits immer mehr zurückgezogen hatte. Und für meine Eltern war es ein regelrechter Schock. Nach Meinung meiner Mutter sollten wir lieber dorthin gehen, wo es einen soliden Job für mich gab, zum Beispiel in eine Kleinstadt in Süddeutschland, wo eine Stelle in einer Behörde zu besetzen war. Gott sei Dank haben wir uns über alle diese Warnungen und Ermahnungen hinweggesetzt und sind in die Hauptstadt gezogen, was mit Sicherheit die beste Entscheidung unseres Lebens gewesen ist.
Schon seit Jahren habe ich oft den Satz gesagt: „Wir haben alles dieser Stadt zu verdanken.“ Mein Freund B. konnte das nie begreifen. „Wie kann man einer Stadt etwas zu verdanken haben? Das ergibt doch gar keinen Sinn. Man hat sie sich doch selber ausgesucht. Man sucht sich etwas aus unter dem, was man vorfindet. Also hat man doch alles sich selbst zu verdanken, oder nicht?“ Mich konnte diese in sich schlüssige Argumentation dennoch nicht überzeugen. An keinem anderen Ort hierzulande und wohl auch nur an wenigen anderen Orten in der Welt hätten wir solche Möglichkeiten gehabt wie hier. Und wenn es auch nur eine sentimentale Verklärung der eigenen glücklichen biographischen Zufälle sein sollte: Ich empfinde eine Art von Dankbarkeit gegenüber dieser Stadt. Dit is Berlin.
Dein Johannes