Alte Ängste, neue Ängste

Die Corona bedingte Abriegelung der deutsch-tschechischen Grenze erinnert an die Jahre der kommunistischen Diktatur – hüben wie drüben

Benedikt Vallendar

Zwei tschechische Frauen an der Grenze in Bärenstein

Sie heiße „Natalia“, sagt die tschechische Grenzbeamtin hinter ihrer Atemschutzmaske. Und ja, man dürfe sie so auch in der Zeitung nennen, fügt sie lächelnd hinzu. Zusammen mit einem Kollegen steht die 24-Jährige seit sieben Uhr früh am deutsch-tschechischen Grenzübergang Sebnitz in der sächsischen Oberlausitz und passt auf, dass niemand die Absperrung passiert. Ein langweiliger Job, sagt Natalia, und wegen der Atemschutzmaske auch ein lästiger; ein Job, der mit umgerechnet 1.300 Euro brutto im Monat für tschechische Verhältnisse zwar gut, aber nicht üppig entlohnt wird. Natalia spricht Englisch, ihr Kollege weder das noch Deutsch. Und so beschränken sich ihre Kontakte mit den deutschen Bewohnern des Grenzortes auf das Notwendigste. In der Regel bis 17.00 Uhr sitzen die Grenzer in einem Rote-Kreuz-ähnlichen Zelt, bis sie abgelöst werden. Auf Bildschirmen überwachen sie ihren Grenzabschnitt und gehen hin und wieder auf Streife. „Die Computer sind mit Drohnen verbunden, die uns Luftaufnahmen liefern“, erklärt Natalia. Bei Grenzdurchbrüchen eilen Kollegen per Streife oder Helikopter zur fraglichen Stelle.
Wer solche Worte hört und in den sechziger und siebziger Jahren geboren wurde, dem kommen sogleich die Bilder vom unbarmherzigen Grenzregime bis zum Fall des Eisernen Vorhangs 1990 in den Sinn. Denn die Bilder von damals sind heute bittere Wirklichkeit. Seit Ende März 2020 ist die Grenze zwischen Tschechien und Deutschland komplett dicht. Da, wo sonst buntes Treiben herrscht, sind längs der Grenze Geisterstädte entstanden, in denen das Frühlingsgezwitscher selbst den Motorenlärm der wenigen Autos übertönt, die in Ausnahmefällen herüberfahren dürfen. Einmal täglich kriegen Grenzbeamtin Natalia und ihr Kollege eine warme Mahlzeit gebracht, erzählen sie; Eintopf mit Dosengemüse, Reis und Tee, denn auch die vielen Asia-Shops und Dönerbuden rund um den Marktplatz sind geschlossen.

Fast wie damals

Geisterstadt Sebnitz

Die Atmosphäre im deutsch-tschechischen Grenzgebiet wirkt gespenstisch, und sie erinnert an Zeiten, als auch das Verhältnis zwischen der DDR und ihren sozialistischen „Bruderstaaten“ alles andere als offen war. „Besonders nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 beäugte die SED-Führung misstrauisch den Grenzverkehr in die damalige Tschechoslowakei“, sagt der Historiker und Buchautor Hans-Michael Schulze (52), der als wissenschaftlicher Berater am DDR-Museum im Berlin arbeitet. Und auch wenn es befremdlich klingt: Noch immer gibt es in Sebnitz Menschen, die sich wehmütig an diese Zeiten zurückerinnern. Nur wenige Meter vom Grenzübergang entfernt leben Familien, die sich neuerdings über die „himmlische Ruhe“ auf ihrer Straße freuen. „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das hier sonst ist“, echauffiert sich eine Mittfünfzigerin, die auf dem Treppenabsatz steht und ihrem Mann beim Autowaschen zuschaut. Ohne Corona führen durch Sebnitz täglich Hunderte, wenn nicht gar Tausende Pendler aus Tschechien zu ihren Arbeitsplätzen nach Deutschland, sagt sie, vor allem in der Gastronomie, der Pflege und im Reinigungsgewerbe. Das sei kaum zu ertragen und habe zu viel Unmut in der Bevölkerung geführt.

Frikadellen im Internet

Doch es gibt auch andere Stimmen. Dass die Pendler verschwunden sind, stört in Sebnitz vor allem den Einzelhandel, darunter die örtliche Fleischerei Rietschel, wo es neben Wurst- und Fleischwaren auch Gulaschsuppe, belegte Brötchen und kalte Getränke gibt. „Uns fehlt der Durchgangsverkehr, die vielen Snacks und Suppen, die sonst über den Tresen gehen“, sagt Inhaber Harald Rietschel und verweist freundlich-diskret auf seine Homepage fleischerei-rietschel.de, wo man auch online bestellen könne.

Religion auf dem Land

Natalia und ihr Kollege in Sebnitz

Eine fast angenehme Grabesstille herrscht zurzeit in der katholischen Pfarrei „Kreuzerhöhung“ in der Sebnitzer Finkenbergstraße, gegenüber der örtlichen Polizeiwache. Organistin Valentine Gebauer nutze die freie Zeit zum Üben, sagt sie, und auch, weil ihre fast erwachsenen Kinder daheim wohl mal ohne die Eltern sein wollen. „Ich habe den Eindruck, dass sich Lehrer und Schüler um Unterricht und Lernen bemühen, gleichwohl das alles auch irgendwann ein Ende haben muss“, sagt Gebauer, deren Töchter das Gymnasium und eine Berufsschule besuchen. Auch schon vor Corona habe ihre Pfarrei unter Mitgliederschwund gelitten, sagt sie. Die Bistumsleitung habe wohl nur noch die sächsischen Metropolen Leipzig, Dresden und Chemnitz im Blick. Derweil das religiöse Leben auf dem Land seinem Schicksal überlassen werde.
Ortwechsel. Der kleine Grenzort Bärenstein, unweit des Fichtelberges, dem höchsten Berg Ostdeutschlands. Auch hier wurde die Grenze zu Tschechien komplett abgeriegelt. Wer sie aus beruflichen Gründen passiert, muss sich zwangsweise in Quarantäne begeben. Zwei junge Tschechinnen bringen ihren Ehemännern, die auf deutschen Baustellen arbeiten, eine Frischhaltebox mit eingekochtem Essen. Sie tragen Mundschutz, so dass auch das Begrüßungsküsschen über die Absperrung hinweg ein wenig deplatziert wirkt. Der nett gestaltete Vorplatz im Zentrum Bärensteins, wo man unter normalen Bedingungen gemütlich spazieren kann, ist mit einer rotweißen Polizeibanderole gesperrt. Tschechische und deutsche Kinder, die hier sonst spielen, Radfahren und sich kabbeln, sind aus der Öffentlichkeit verschwunden. Hin und wieder huschen vermummte Hausbesitzer über den Bürgersteig, stets die missbilligenden Blicke der Ordnungskräfte in Nacken, die neuerdings Strafen bis 5.000 Euro verhängen dürfen. Der Kalte Krieg hat auch in Bärenstein tiefe Spuren hinterlassen. Bei Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 warteten ringsum den Ort sowjetische Panzereinheiten auf ihren Befehl zum Einmarsch im Nachbarland, was viele Grenzbewohner bis heute nicht vergessen haben, sagt Historiker Schulze, dessen Familie aus Ostdeutschland stammt und der die „DDR-sozialisierten Befindlichkeiten seiner Landsleute“ sehr gut kenne, wie er sagt. In Sebnitz beweist unterdessen Harald Rietschel, dass auch er die Befindlichkeiten seiner Mitmenschen versteht, und dass er Geschäftssinn hat. Neben Lebensmitteln bietet der Fleischermeister im Ladenlokal neuerdings auch Toilettenpapier an, die Großpackung für 2,95 Euro.

Veröffentlicht von on Apr. 27th, 2020 und gespeichert unter DRUM HERUM, SONSTIGES. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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