Wie die DDR tatsächlich einen „neuen Menschen“ geschaffen hat: den Ost-Mann
Thomas Claer
Wie oft hat man hierzulande nicht schon über den ewig abgehängten Osten lamentiert. Über die dort fehlende Zivilgesellschaft, über rechtsradikale Strukturen im ländlichen Raum, über die regionalen Häufungen von Pegida-Wutbürgern und neuerdings auch Corona-Leugnern. Doch als Wurzel aller dieser Übel wurde in vielen solchen Betrachtungen und Analysen nicht der Ostbürger an sich, sondern in erster Linie dessen männliche Variante ausgemacht. Der frustrierte Ost-Mann als Problem-Mann also.
Und in der Tat haben sich, wie einschlägige Untersuchungen belegen, in 30 Jahren deutscher Einheit ostdeutsche Frauen als weitaus integrierbarer in die gesamtdeutschen Verhältnisse erwiesen als ostdeutsche Männer. Insbesondere zeigt sich dies auf der zwischenmenschlich-partnerschaftlichen Ebene: „Die Paarung Ostfrau/Westmann ist bis heute siebenmal häufiger anzutreffen als die umgekehrte Konstellation“, konstatiert der (West-)Schriftsteller Peter Schneider in seinem Buch „An der Schönheit kann’s nicht liegen“. Klar, die DDR-Frau war, anders als viele West-Frauen, „berufstätig, ökonomisch unabhängig, selbstbewusst und scheidungsfreudig“, was sie für West-Männer ziemlich attraktiv machte. Umgekehrt konnte sich der Ost-Mann, anders als sein West-Pendant, „nicht mit Privilegien schmücken, die ihm ein Machogehabe gestatteten. Mit Geld, schnellen Autos und einem Haus auf Ibizza konnte er nicht protzen. Er war auf seine eventuellen Begabungen als Liebhaber und auf seine Qualitäten als Vater und Partner angewiesen“. Doch damit allein war und ist bei West-Frauen zumeist kein Blumentopf zu gewinnen. „Noch als Fünfzig- oder Sechzigjährige verdienen Ost-Männer nicht gut, denn ihnen fehlt die Fähigkeit, ihre Talente auf dem Markt anzupreisen. Immerhin verrichten sie mehr Hausarbeit als die Westmänner.“
Tiefe Einblicke in die mentalitätsgeschichtlichen Hintergründe dieser in Ost und West traditionell grundverschiedenen Männlichkeitsrollenbilder verdanken wir dem jüngst erschienenen fulminanten Essay „Wandmänner“ von (Ost-)Schriftsteller Martin Ahrends, Jahrgang 1951 (Magazin der Süddeutschen Zeitung Nr.45/2020 v. 6.11.2020, S.34 ff.): „Und es sind ja dann im Westen andere deutsche Nachkriegsmänner herangewachsen als im Osten. Wo bei uns die Macht der Partei waltete und … massenhaft stressfreie Jobs produzierte, wurden im Westen Heerscharen von ‚richtigen Männern‘ gebraucht in der Politik und vor allem der Wirtschaft, Heerscharen von Unternehmern, Verkäufern, Werbemanagern tobten sich da aus im Haifischbecken der freien Konkurrenz.“ Der Osten hingegen hatte sich nach Leninscher Vorgabe nichts Geringeres als die Erschaffung eines „neuen Menschen“, der „sozialistischen Persönlichkeit“, auf die Fahne geschrieben, und ist dabei, rückblickend betrachtet, sogar recht erfolgreich gewesen, wenn auch auf andere Weise als geplant: „Im Windschatten der Mauer, in dieser historischen Windstille gedieh manches, mit dem niemand gerechnet hatte, am wenigsten die ALLES planenden Staatslenker. Wie unwichtig uns das Geld war. Der Erfolg, das Siegen, das soziale Fortkommen. Und was stattdessen wichtig werden konnte: die kollektiven Initiativen im privaten Raum, der wahrscheinlich anders privat war als der im Westen. Ein anderer sozialer Kosmos. Wir hatten ein anderes Verhältnis zum Eigentum. Wir hatten mehr Zeit. Die Geschlechter hatten ein anderes Verhältnis zueinander. Was da entstand aus der Not, hatte in manchen Zügen tatsächlich etwas von Neubeginn. Nicht die offizielle Behauptung des Neubeginns schuf ihn, sondern ein großes Ablassen von der modernen Überanstrengung. Unsere technische Zurückgebliebenheit war nicht beabsichtigt, aber doch eine andere Antwort als der westdeutsche Technikfetischismus. Den für die Industrie optimierten Menschen wollten die Genossen auch, waren nur längst nicht so erfolgreich damit. Wir durften andere Männer sein… ganz und gar harmlos, auf ihre Frauen fixiert, nicht auf den Erfolg, Männer, die sich nicht gedemütigt fühlen, wenn sie hinter dem Steuerrad eines „Pkw Trabant“ Platz nehmen. Und hatte so ein Trabant nicht eine ganz andere Wahrhaftigkeit als ein Volkswagen? Der Trabi erzählte im Land der Tüftler und Techniker von männlicher Selbstbeschränkung.“ Und weiter heißt es bei Martin Ahrends: „Wir lebten zur selben Zeit wie ihr Westmänner – in einer anderen Zeit, einer Halbschlafzeit, beinahe ungestört von gelegentlichen Kampagnen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität. Unsere Ost-Zeit war nach dem damaligen Wechselkurs nur ein Achtel der West-Zeit wert. Sie durfte ungenutzt vergehen, ähnlich der Kinderzeit, die sich noch nicht in Stunden und Minuten misst, sondern nach dem, was Stimmung und Zufall einem an Erlebnissen eintragen.“
Zu den zahlreichen Paradoxien, die dieses vier Jahrzehnte währende Leben hinter Mauer und Stacheldraht auch mit sich brachte, gehörten sogar Freiheiten, die so im Westen nicht zu haben waren: „Im Osten war man frei von den Verdauungssäften des Kapitals. Frei von Existenzkämpfen und -ängsten, frei von der Angst, die Wohnung und die Arbeit zu verlieren. Frei von den wirklichen Winden des Daseins. Nicht auf Teufel komm raus produzieren, verkaufen, verbrauchen, entsorgen zu müssen: Das war eine Freiheit des Ostens. Uralte männliche Antriebe, Unternehmertum und Kampfgeist, lagen so ziemlich brach. Ein unbestelltes Feld, mit Unkraut zugewuchert, das prächtig blühen, sich ungestört vermehren konnte, selbstgenügsam, ineffizient. Ostmänner waren gelernte Bastler und Improvisateure, somnabul reisten sie im Land herum auf der Spur eines Baustoffs oder Ersatzteils. Eine Freiheit des Ostens war die Freiheit des Dilettantentums, leidlich mauern, tapezieren, autoschlossern zu können – das waren die Tugenden des Ostmannes.“ Doch waren solche Tugenden dann seit den Wendejahren immer weniger gefragt. „Von den Klischees abgesehen sind Ostmänner meiner Generation oft noch als solche erkennbar. Eher ’naturbelassen‘. Nicht von Kindsbeinen so effizient eingegliedert, wie ich es bei vielen Westmännern erlebe… Auf unserer Seite verlief die Eingliederung doch grobschlächtiger und war leichter vorzutäuschen. Mit einem Lippenbekenntnis kam man davon und gehörte schon dazu. Das war im Westen so leicht nicht zu haben, das Dazugehören.“ Soweit (Ost-)Schriftsteller Martin Ahrends.
Doch zeigt sein (West-)Schriftstellerkollege Peter Schneider, sich auf Beobachtungen in seinem umfangreichen Bekanntenkreis stützend, hier einen Ausweg auf: „Dennoch hat der Ostmann eine Chance: Sie betrifft die alleinstehende und von der Männerwelt enttäuschte Westfrau, die sich nach endlosem und schließlich unheilbarem Streit von dem Ernährer ihrer Kinder getrennt hat. Der Ostmann bietet sich ihr in dieser Situation als guter Kamerad an, er tröstet sie. … Es macht ihm nichts aus, die Kinder der Westfrau morgens in die Schule zu bringen oder sie im Kinderwagen stundenlang durch den Park zu schieben. Solidaritätsgewohnt schließt er diese nicht selten krass verwöhnten Kinder in seine Zuneigung ein, macht mit ihnen Hausaufgaben und erweist sich als geduldiger Spielkamerad. Vorsichtig – und nur in Abwesenheit der Mutter – versucht er ihnen ein Minimum an Erziehung zukommen zu lassen. Nach langer und bestandener Probezeit öffnet ihm seine westliche Geliebte endlich die Tür zu ihrem Schlafzimmer.“