Die neue Tocotronic-Platte „Schall und Wahn“
Thomas Claer
Es ist einfach nur zum Grausen, was Tocotronic, unsere einstigen Trainingsjacken-Helden der Neunziger, auf ihrer neunten regulären Studioplatte über weite Strecken abliefern. Dafür möchte man sie am liebsten schlagen, aber so richtig. Was haben sie sich bloß dabei gedacht, uns mit solch einem schwülstigen Bombast zu kommen wie im Opener „Eure Liebe tötet mich“ und im Schlussstück „Gift“? Diese jeweils geschlagene acht Minuten langen Zumutungen bilden gleichsam den Rahmen eines von Anfang bis Ende völlig missratenen Albums voller Tiefpunkte. So müsste man sagen, wären da nicht doch noch ein paar – in diesem Umfeld jedenfalls überraschende – Songs eines ganz anderen Kalibers, namentlich das Titelstück „Schall und Wahn“ und vor allem das überaus feine „Im Zweifel für den Zweifel“. Man wollte diese Stücke, wäre das Wort nicht schon so abgenudelt, gerne als musikalische Kleinode bezeichnen. Nur hier kann die Band aus der „Hamburger Schule“ an das vergleichsweise starke Vorgängeralbum „Kapitulation“ (2007) anknüpfen. In ihren besten Momenten erinnern die reifen Tocotronic im akustischen Gitarrenspiel an die seligen Smiths aus den Achtzigern mit ihrem genialen Gitarrero Johnny Marr, wohingegen jedoch Dirk von Lowtzow gesanglich nur einen recht gequälten Morrissey abgibt. Ein Wort zu den Texten der Band, die früher einmal die Welt aus den Angeln zu heben sich anschickten: Heute kann man bestenfalls sagen, dass sie nicht allzu sehr stören. Das stümperhaft plumpe literarische Zitieren kam in ihrem Frühwerk noch regelrecht charmant rüber, heute hingegen wirkt es eher peinlich. Auch dort, wo sie sich in der alten Parolenhaftigkeit versuchen, wie im Single-Stück „Macht es nicht selbst“, geht der Schuss nach hinten los. Was vermutlich als kritisch linkes Statement gegen den Neoliberalismus mit seiner Ich-AG-Mentalität, aber auch gegen die in seinem Schlepptau chronisch selbstausbeuterische digitale Boheme gedacht war, klingt aus dem gutsituiert-aristokratischen Mund eines Dirk von Lowtzow wie reaktionärer Hohn gegenüber denen, die sich ein gewiss anstrengendes, aber immerhin selbstbestimmtes Leben organisiert haben.
So lassen sich die Parolen-Songs der Tocos aus den Neunzigern heute mit Leichtigkeit gegen sie selbst wenden: „Alles, was ich will, ist, nichts mit euch zu tun haben“, „Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen“ oder – leicht abgewandelt – „Tocotronic – ihr habt mein Leben zerstört!“ Hier stockt der Rezensent: Woher eigentlich diese Grobheit? Warum nicht einfach, wie bei anderen, das Gute herausstellen und den Rest überhören, es tut doch keinem weh. Halt, das tut es doch! Und wie! Vielleicht ist es ja enttäuschte Liebe. Das Urteil lautet: befriedigend (7 Punkte). Damit seid ihr noch gut weggekommen, Saubande!
Tocotronic
Schall und Wahn
Vertigo Berlin (Universal) 2010
Ca. € 17,-
ASIN: B002ZHIPT4
Hallo,
ich bin zufällig auf diese Rezension gestoßen und ich muss sagen, ich finde sie sehr unterhaltsam, wenn auch unzutreffend in der Hinsicht, als der Blickwinkel aus dem sie verfasst ist der falsche ist. Sie trauern offenbar (auch) den alten Tocotronic-Zeiten hinterher. Hamburger Schule, Trainingsjacken-Helden und Parolen waren aber gestern. Seit KOOK bewegen sich Tocotronic weg von der Jugendbewegung, hin ins Tocotronic-Land. Mit ihren Alben haben sie etwas Seltenes in der deutschen Musiklandschaft geschaffen – einen eigenen Stil. Vor allem einen eigenen Stil, der sich nicht wie das Album Nr.1 anhört (vgl. Kettcar, Tomte, die grauenhaften Sportfreunde Stiller und all die anderen gelangweilten Langweilenden). Dass sich die Band dabei für manche wie Morrissey anhört, liegt wohl weniger daran, dass sie den Stil eines großen Musikers kopiert, als dass es nur noch wenig unbesetzte Stil-Regionen gibt, die eine Band für sich alleine reklamieren kann. Jetzt aber zum Kernproblem bei Schall und Wahn: Wer bei der neuen CD versucht die Band (die sich übrigens nicht erst seit dem Beitritt von Rick McPhail durch geschickte Kompositionen und vor allem live durch sauberes technisches Gitarrenspiel hervortut) an ihren früheren Stücken zu messen kann einfach nur scheitern und enttäuscht sein. Dies liegt offensichtlich daran, dass sich die Band weiterentwickelt hat. Zwar findet sich das eine oder andere alte Riff , die eine oder andere Zeile von früher, so oder in ähnlicher Form (auch) auf der neuen Platte wieder, nur haben Tocotronic inzwischen die Trainigsjacken ausgezogen. Und siehe da, die Parole passt nicht mehr zum Verkünder. Oder passt sie doch? Oder ist sie ironisch gemeint? Oder einfach nur sinnlos? (Vielleicht tappt man auch einfach schon in die tocotronische Falle, indem man darüber nachdenkt). Keiner weiß es mehr. Man erinnert sich dann gerne an die alten Zeiten. Früher konnte man den drei Abiturienten noch glauben, dass Michael Ende ihr Leben zerstört hatte. (Ob man das wirklich konnte steht natürlich nicht fest, so viel Doppelbödigkeit traue ich der Band aber nicht zu oder will es ihr einfach nicht zutrauen). Die entscheidende Authentizität in Gesang, Texten und holprigem Gitarrengeschrammel fehlt heute. Die Musik hat sich weiterentwickelt, sie ist abstrakter geworden, schöner arrangiert, besser produziert, gesungener, tiefsinniger (?) usw. Wer Tocotronic nicht von früher kennt und Musik mag, die nicht stört, dem gefällt die neue Platte wohl recht gut. Hat sie sich nun für den alten Hörer zum Besseren weiterentwickelt? Nein. Wer das Album anhand der liebgewonnen Ur-Tocotronic-Kriterien hört, dem kann es (wieder) nicht gefallen. Warum der alte Hörer die neuen Lieder nicht gutfinden kann ist leicht zu beantworten, aber hier nicht die entscheidende Frage. Die entscheidende Frage ist, ob sich der Hörer überhaupt von den alten Tocos lösen kann. Und das geht wohl nicht. Sie zitieren sich ja so oft selbst, dass man sie schon nicht vergessen wird. Im Endeffekt hat man als „richtiger“ Tocotronic Liebhaber also zwei Bands im Kopf, von denen die neue meistens nicht ins Bild passt. (Hierzu fällt mir ein, dass die Band 2002(?) mit „This boy is Tocotronic“ bei Top of the Pops auftrat – bei offensichtlichem Vollplayback und mit vertauschten Instrumenten . . . dies löste natürlich in der Tocotronic-Fan-Gemeinde tiefgehendes Entsetzen aus). Die neue Tocotronic Band passt nicht ins Bild, weil sie für den, der die alten Sachen mag, geradezu einen Verrat an der alten Band begeht. Und Verrat passt ja nicht in den Parlolengeist der Jugendbewegung. Ich werde das Gefühl nicht los, dass es der Band gerade darum geht in dieser Hinsicht mit den Erwartungen der Hörer zu spielen. Und zwar nicht nur als Nebeneffekt, sondern als einem Hauptbestandteil der Musik. Das klappt meiner Meinung nach ganz gut. Dann will die Band natürlich auch gute (neue) Songs schreiben. Das klappt meiner Meinung nach nicht so gut. Die Lieder wirken auf mich teilweise zu oberflächlich, wenig überraschend und herzlos. Und hier kann ich mich natürlich auch nicht von den alten Tocotronic lösen. Je mehr man die alten Lieder als Vergleich heranzieht, desto mehr wird man wohl enttäuscht von der neuen CD. Aber irgendwann findet man die neuen Stücke vielleicht auch gut. Vielleicht sind sie ja gut gemacht, trotz Verrates. Vielleicht kommt irgendwann die Kapitulation vor Schall und Wahn. So wie „Hi Freaks“ in meiner Gunst gestiegen ist, bzw. das gesamte weiße Album, so wird vielleicht auch Schall und Wahn mal „besser“ werden. Bis dahin gibts ja noch die Stücke, bei denen Tocotronic ein bisschen klingen wie früher (Stürmt das Schloss), wobei man es ihnen ja nicht so ganz abkauft. Aber vielleicht liegt ja genau darin der Witz von von Lowtzow & Co. Besser wäre es natürlich, wenn sich Tocotronic vor einiger Zeit mal aufgelöst hätten und sich als „Rotary Club“ neu gegründet hätten, dann wüsste man, woran man ist.
[…] Freunde – Geißel der Menschheit“. Verbessert gegenüber dem relativ schwachen Vorgängeralbum, das es dennoch auf Platz 1 der deutschen Verkaufscharts geschafft hat, hat sich auf alle Fälle […]