Alexander Thiele publiziert eine „Allgemeine Staatslehre“ und eine „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“
Matthias Wiemers
In meinem wesentlich in Münster absolvierten Jurastudium waren seinerzeit die Grundlagenfächer sehr breit im Angebot – obwohl man hier nur in einem der Fächer einen nicht besonders aufwendigen Schein machen musste.
Zwei dieser Grundlagenvorlesungen – sie wurden damals beide von Dieter Wyduckel gehalten, der kurz darauf ein Ordinariat in Dresden erhielt – sind bis heute als Format bekannt und sind zugleich fast immer Reservate der Öffentlichrechtler: Allgemeine Staatslehre und Verfassungsgeschichte der Neuzeit, wobei im zweiten Fall die Bezeichnungen wechseln.
Der Göttinger Privatdozent Alexander Thiele, der seit Jahren praktisch jedes Jahr (mindestens) ein Buch schreibt, hat nun 2020 eine neue „Allgemeine Staatslehre“ und in diesem ein Buch vorgelegt, das er nur im Untertitel als „Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ bezeichnet. Beide gilt es nachfolgend vorzustellen.
„Allgemeine Staatslehre“ kennt man aus der Übergangszeit vom 19. Zum 20. Jahrhundert. Udo di Fabio kam, als er im Rahmen der „Flüchtlingskrise“ ein Gutachten zu Fragen des Umgangs hiermit erstellte, nicht umhin, auf den Klassiker dieses Fachs, Georg Jellinek, zurückzugreifen, um die Bedeutung von territorialen Grenzen herauszuarbeiten. In Deutschland haben zuletzt Burkhardt Schöbener und Matthias Knauff in der Beck´schen Reihe Grundrisse des Rechts ein solches Werk vorgelegt, nachdem es Jahrzehnte keine Neuauflage gegeben hatte. Es verwundert deshalb nicht, wenn Thiele, dies sei hier vorausgeschickt, sein Buch durchgängig auch als Rechtfertigungsschrift für das Fach aufgebaut hat. Denn der Untertitel lautet: „Begriff, Möglichkeit, Fragen im 21. Jahrhundert“.
Das Werk ist in vier Teile gegliedert, von denen im ersten Teil eine Begriffsklärung vorgenommen und die Allgemeine Staatslehre in den Wissenschaftsdisziplinen verortet wird. Der ans Ende des Abschnitts gesetzte Definitionsvorschlag ist lang (und erinnert ein wenig an Hans Julius Wolffs Definition der „Verwaltung“). Mit dieser Definition gewissermaßen im Gepäck betreten wir als Leser den zweiten Teil (B.) mit dem Titel „Zur Möglichkeit einer Allgemeinen Staatslehre im 21. Jahrhundert“. Hier setzt sich Thiele zunächst mit Versuchen auseinander, die Bedeutung des Staates zu relativieren. Es folgt eine kritische Auseinandersetzung mit dem Vorwurf, es fehle der Allgemeinen Staatslehre an einer adäquaten Methode und schließlich werden die Vorwürfe, es mangele der Allgemeinen Staatslehre an einer notwendigen Problemnähe.
Diese Einwände werden aber letztlich im dritten Teil (C.), der den Schwerpunkt der Arbeit bildet, im Einzelnen widerlegt. Die dort präsentierten „Zen Fragen an eine Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert“ Hier lernen wir etwas über den Modernen Staat und sein Verhältnis zur Gesellschaft, aber vor allem auch über die unterschiedlichen Staatsbegriffe (wobei der Nationalstaat als gescheitert bezeichnet wird).
Weitere Themen sind:
– Entstehung und Untergang von Staaten (II.)
– Rechtfertigung von Herrschaft (III.)
– Unterscheidung von Regierungssystemen (IV.)
– Grundelemente von Staaten und ihre Finanzierung (V.)
– Wer sind staatliche Herrschaftsträger? (VI.)
– Wer sind gesellschaftliche Herrschaftsträger? (VII.)
– Welche Gliederungen des Staates lassen sich unterscheiden? (VIII.)
– Wie ist internationale und supranationale Kooperation ausgestaltet? (IX.)
– Sollte der moderne Staat eine Zukunft haben? (X.).
Die letzte Frage bildet praktisch den Übergang zum vierten Teil, dem „Ausblick“ (D.).
Während die Allgemeine Staatslehre in seinem Hausverlag Mohr Siebeck erschienen ist, ist es Thiele gelungen, die Verfassungsgeschichte in einem Publikumsverlag unterzubringen – zu recht, wie der Leser schon früh bemerken wird.
Denn die Verfassungsgeschichte ist eine Erzählung, die zwar auch in insgesamt 14 Kapitel aufgeteilt ist, aber doch sehr flüssig geschrieben ist. Damit verlässt sie die Art und Weise, wie diese nach wie vor – jedenfalls für Öffentlichrechtler – eminent wichtige historische Basis des positiven Verfassungsrechts bislang in Lehrbüchern referiert zu werden pflegt.
Im ersten Kapitel „Die Zäsur der Neuzeit“ schlägt Thiele praktisch Pflöcke ein, um von dort aus in die Gegenwart aufzubrechen. Auch das zweite Kapitel dient noch der Vorbereitung, indem der Begriff der Verfassung erläutert wird. Damit ist der Band auch ein wenig „Verfassungstheorie“ (, das als Fach übrigens teilweise die „Allgemeine Staatslehre“ im universitären Unterricht abgelöst hat).
Die einigermaßen chronologische Darstellung beginnt mit dem dritten Kapitel mit der Darstellung der amerikanischen Revolution im 18. Jahrhundert. Es folgt ein Kapitel über „Die Französische Revolution“, bevor dann im fünften Kapitel Großbritannien und Deutschland referiert werden.
Das Buch führt uns bis in die Gegenwart – und aktuelle Erscheinungen – von Trump bis Corona – werden gelegentlich kommentiert, so dass der Band teilweise auch als aktueller Kommentar zur Zeitgeschichte gelesen werden kann.
Ich breche hier bewusst ab, weil der Band einfach gelesen werden muss. Thiele stellt nicht nur historisch, sondern auch bezüglich der zitierten Personen gelegentlich Bezüge zu Göttingen her, das als Hannoveraner Landesuniversität bis 1837 eng mit Großbritannien verbunden war (in jenem Jahr wurde die Personalunion in der Regierung des Königreichs Hannover beendet). Die Bezüge sind freilich nicht aufdringlich, und schon gar nicht spielt sich der Autor in irgendeiner Weise in den Vordergrund. Deshalb nutzt der Rezensent die Gelegenheit hierzu: Es mutet in unserem Wissenschaftssystem merkwürdig an, dass ein herausragender Autor, der bereits seit vielen Jahren habilitiert ist und unermüdlich publiziert, noch nicht auf ein Ordinariat an einer deutschen Universität berufen wurde. Es bleibt zu hoffen, dass dies nicht darauf zurückzuführen ist, dass der Autor keinen „Fördertatbestand“ erfüllt.
Ich habe mir jedenfalls nach Lektüre sogleich die Bände aus den Vorjahren „Der gefräßige Leviathan“ und „Verlustdemokratie“ (beide bei Mohr Siebeck) gekauft und bin auf die Lektüre gespannt.
– Alexander Thiele, Allgemeine Staatslehre, Tübingen 2020, 323 S., 22 Euro (ISBN 978-3-8252-5381-3)
– Alexander Thiele, Der konstituierte Staat. Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Frankfurt/New York 2021, 463 S., 29,95 (ISBN 9783593514222)